Bernhard Aichner: BÖSLAND

Experte für das Böse

2. Oktober 2018
Die international erfolgreiche „Totenfrau“-Trilogie machte ihn berühmt. In seinem neuen Thriller „Bösland“ erzählt Bernhard Aichner von einem ­Verbrechen in der Vergangenheit und einem mörderischen Duell.

„Komm mit mir ins Bösland“, hatte der Vater immer gesagt. Dann nahm er den kleinen Ben mit hinauf auf den Dachboden, um ihn zu bestrafen. Bis Ben ihn eines Tages dort findet – erhängt an dem Gürtel, mit dem er den Jungen verprügelte. Der Erste, den Ben anruft, ist sein bester Freund Felix Kux, der Sohn des Dorfarztes. Der Dachboden, dieser furchtbare Ort, wird zu ihrem Revier, wo die beiden ungestört sind. Drei Jahre später verliebt sich Ben in Mathilda, ihre neue Mitschülerin. Doch dann ist sie tot, erschlagen mit einem Golfschläger. Der 13-jährige Ben wird verhaftet, wird als „Mörderjunge“ in die Psychiatrie eingeliefert. 

30 Jahre später kehrt Ben zu seiner Psychiaterin von damals zurück. Er will reinen Tisch machen, will einen Schlussstrich ziehen, will, dass alle begreifen, was damals passiert ist. Dabei soll ihm sein ehemaliger Freund Kux helfen, weil er „der Schlüssel zu allem sein kann“. Jahrzehntelang haben sich die beiden nicht gesehen, Kux hat Ben kein einziges Mal besucht. Nun steht Ben vor der Tür von Kux’ mondäner Villa, dringt in sein Leben ein und weckt die Geister der Vergangenheit. Was ist damals passiert? Wer hat Mathilda erschlagen? Dann geschieht ein weiterer Mord.

Der Österreicher Bernhard Aichner, den „Die „Welt“ vor drei Jahren als „größten Exportschlager der deutschsprachigen Literatur“ bezeichnete, ist ein Experte für das Böse. In seiner „Totenfrau“-Trilogie, die ihn berühmt gemacht hat, ist die Hauptperson eine Bestatterin, die als Serienmörderin und Racheengel unterwegs ist. In „Bösland“ liefern sich zwei Männer mit einer dunklen Vergangenheit ein Duell bis aufs Blut. Die üblichen Ermittlerkrimis inte­ressieren Aichner weniger. Der 46-Jährige überrascht mit besonderen Figuren, und er pflegt seinen ganz eigenen Stil, der seine Spannungsromane so anders und so außergewöhnlich macht. 

Leseprobe aus "Bösland"

Er hing an dem Gürtel, mit dem er mich immer geschlagen hat. Ich starrte sein Gesicht an, seinen offenen Mund, seine weiße Haut. Und die Hände, die still an seinen Armen herunterhingen. Da war nichts mehr, das mir Angst machte. Ich war glücklich, vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben. 

1984. Der kleine Ben und der tote Mann. An einem Samstagmorgen war ich aufgewacht und hatte ihn gesucht. Mein zehnter Geburtstag war es. Ich wollte, dass er mich in den Arm nimmt, mir gratuliert. Ich machte Frühstück für ihn, Eierspeise, Orangensaft, ich deckte den Tisch für uns beide. Aber egal, wie laut ich nach ihm rief, er kam nicht. Ich dachte, er wäre ins Dorf gegangen, um ein Geschenk für mich zu besorgen. Eine Überraschung für dich, Ben. Ich hoffte, dass er sich zu diesem Tag etwas Besonderes für mich einfallen ließ. Ein neues Fahrrad für dich, Ben. Der Kassettenrekorder, den du dir schon so lange gewünscht hast. Du hast es dir verdient, Ben. So fleißig, wie du bist. Doch nichts.

Zwei Wochen war ich allein mit ihm gewesen. Zwei Wochen lang hatte er täglich seine Wut an mir aus­gelassen. Deine Mutter ist schwach, sagte er. Ich werde dafür sorgen, dass du nicht so wirst wie sie. Dreckskuh nannte er sie. Weil sie zur Kur gefahren war, weil ihr Kreuz kaputt war und auch sonst alles. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten. Es tut mir leid, Ben, ich muss kurz für mich sein. Sie hatte mich zurückgelassen bei ihm und war verschwunden. Da waren nur mehr ­seine Hände auf mir. Keine Geburtstagstorte für mich. In drei Wochen bin ich wieder da. Du schaffst das schon, hat sie gesagt. Obwohl ich nur ein Kind war.

Der Kühlschrank war voll, Mutter hatte vorgekocht, Eintopf, Knödel, Braten, sie wollte nicht, dass er Hunger hat. Dass er wütend wird. Sie wollte immer so tun, als wäre alles in bester Ordnung, als gäbe es kein Problem, keine Gewalt. Kein Kind, von dem sie täglich mit traurigen Augen angestarrt wurde. Sie wollte Augen, die strahlen. So wie an diesem Tag, an dem ich ihn fand. Tot am Dachboden der alte Mann. 

Irgendwie fühlte es sich so an, als wäre ich der Sieger nach einem langen ungleichen Kampf. Auch wenn ich kurz Angst hatte, dass sein Mund wieder auf­gehen würde, dass er seine Hand wieder heben, dass ich seinen Gürtel wieder auf meinem Rücken spüren könnte, es passierte nicht. Er bewegte sich keinen Zentimeter mehr. Erst als ich ihn mit einem Stock berührte, ihn vorsichtig an seinem Oberschenkel stupste, da begann er ganz langsam hin- und herzuschwingen. Wie ein kleines Kind auf einer Schaukel. Harmlos, friedlich, er konnte mir nichts mehr tun. Keine Schläge mehr. Keine Nächte mehr, in denen ich wach lag, weil ich wusste, dass er kommen würde. Betrunken aus dem Wirtshaus, direkt in mein Zimmer, weil der Weg zu mir der nächste war, weil es ihn besänftigte, wenn er sich um mich kümmerte, wenn er mir zeigte, wie stark er war. Wahrscheinlich ging es ihm besser, wenn er mich schlug, seine Welt war für kurze Zeit wieder in Ordnung, wenn er mich zwang, mit ihm nach oben zu gehen.

Komm mit mir ins Bösland, hatte er immer gesagt. Mitten in der Nacht, morgens, nachmittags, immer wenn ihm danach war. Ich hatte keine Wahl, nie hatte ich eine gehabt. Und meine Mutter hatte es geduldet. Sie hatte nichts getan, um es zu verhindern. Sie half mir nicht, hielt ihn nie davon ab, mich vor sich her die Treppe nach oben zu treiben. Ins Bösland. Um mich zu bestrafen. Weil ich den Stall nicht sauber genug gemacht hatte. Weil ich mich nicht um die Hühner gekümmert hatte. Irgendetwas fiel ihm immer ein, es gab immer einen Grund. Du lässt mir keine andere Wahl, Ben. Dann schlug er zu mit seinem Gürtel. Immer wieder auf meinen Rücken, auf mein Hinterteil. Komm mit mir ins Bösland, Ben. Seit ich denken kann. Seit ich alt genug war, die steilen Treppen mit ihm nach oben zu steigen.

Er war Lkw-Fahrer, Nebenerwerbsbauer und Trinker. Man hatte ihm gekündigt, weil er Benzin aus dem Tank seines Wagens abgezapft und verkauft hatte. Über die Jahre sollen es über zehntausend Liter gewesen sein. Man redete darüber im Dorf, hinter vorgehaltener Hand lästerten sie. Nur knapp sei er dem Gefängnis entgangen damals, nur der gute Wille des Speditionsunternehmers habe ihn gerettet. Der Junge braucht einen Vater, hatte es geheißen. Deshalb ließen sie ihn ziehen, deshalb konnte er auf mich losgehen, jahrelang. Sein Hass auf die Welt in meinem Gesicht. Einfach weil ihm danach war, regelmäßig die Abdrücke seiner Finger auf meiner Wange. Wie ich vor dem Badezimmerspiegel stand und darauf wartete, bis es verging. Aber es verging nicht. Es begann immer wieder von vorne. Wie ein Stempel war es, mit dem er mich markierte. Ein Brandzeichen, das sagte, dass ich ihm gehörte, dass er mit mir machen konnte, was er wollte. Ich werde dir so lange wehtun, bis du machst, was ich sage. Er brüllte, er trank, er schlug zu. Ich will, dass du dich besser um den Hof kümmerst, wenn ich nicht da bin. Um deine Mutter. Er bestrafte mich für sein Unglück. Er zog mich mit in seinen Abgrund, da war nichts Leichtes, keine unbeschwerten Tage im Sommer, kein schönes Wort. Nur Kux.

Mein Freund, der Grund, warum ich trotz allem immer wieder aufwachen wollte. Felix Kux. Der Sohn des Dorfarztes. Ich will nicht, dass du dich mit diesem reichen Schwachkopf triffst, hatte der Alte immer gesagt. Ich machte es trotzdem und bekam Schläge dafür. Aber Kux war es wert. Er war der einzige Mensch, mit dem ich reden konnte. Kux war meine Insel, er bewahrte mich vor dem Untergehen, dem Ertrinken. Verwundet und traurig ging ich an sein Land, wenn der Alte mit mir fertig war. Kux war für mich da, er nahm mich auf, er war so etwas wie Heimat. Er kümmerte sich um mich. Und er war auch der Erste, den ich anrief damals. 

Bitte komm, habe ich gesagt. Es ist etwas passiert. Und Kux war neugierig. Ob es etwas Gutes sei, fragte er mich. Ich sagte Ja und starrte das grüne Telefon an, das vor mir auf dem Tischchen im Gang stand. Die Wählscheibe, die Zahlen.