Eliot Schrefer: CALDERA

Die Wächter des Dschungels

31. Oktober 2018
Das Panthermädchen Mali ist anders: Sie gehört zu den magisch begabten, aber von den übrigen Tieren geächteten Schattenwandlern. Als der Dschungel von Caldera in Gefahr ist, macht sie sich mit ihren Freunden auf, ihn zu retten. Der Auftakt zu einer umwerfenden Tierfantasy.

Leseprobe

Was stimmt nicht mit mir?
Mali ballt und streckt ihre Pfoten. Jedes Mal, wenn sie die Augen schließt, lässt die Unruhe sie gleich wieder aufspringen, ganz egal wie fest sie sie auch zukneift. Alle anderen Panther im Bau schlafen, so wie es sich gehört. Es ist schließlich mitten am Tag!

Warum ist sie dann wach? Warum befindet sie sich auf der falschen Seite des Schleiers?
Sie fängt an, Ameisen zu zählen. Vielleicht macht sie das ja müde. Kein Wesen kennt irgendeinen Ort so gut wie Mali diesen Bau. Er besteht aus einem dichten Geflecht aus dornigen Ranken und Lianen, das sich in die Gabelung zweier uralter Bäume schmiegt. Blattschneiderameisen tummeln sich darin, aber abgesehen davon ist er gemütlich und sie sind vor den gefährlichen Tagwandlern geschützt.

Gut, Tante Usha wäre wohl auch draußen sicher – Mali kann sich nicht vorstellen, dass irgendein Tier so leichtsinnig wäre, sie anzugreifen. Usha hat ihren langen muskulösen Körper mit dem dichten braunschwarzen Pelz schützend um ihre Jungen gerollt. Ihr leises Schnarchen hat eine beruhigende Wirkung auf die schlafenden Säuglinge.

Mali rückt von Tante Usha weg und tappt auf leisen Pfoten ans andere Ende des Baus. Sie schiebt einige Ranken auseinander, bis sich ein kleines dreieckiges Loch im Dach auftut, durch das sie den blauen Himmel und den Sonnenschein sehen kann. Ein Schauer läuft ihr über den Rücken. Am Tag treiben Kreaturen ihr Unwesen, die sie nur aus den Legenden kennt: Monster, die kein Nachtwandler je gesehen hat.

Sie blickt ins helle Blau. Eine solche Farbe gibt es nachts nicht. Selbst die Schmetterlinge halten ihre himmelblauen Flügel geschlossen, wenn der Mond das Sagen hat. Mali ist so in Gedanken versunken, dass sie keine Ahnung hat, wie viel Zeit verstrichen ist, als das blaue Dreieck sich plötzlich grün-weiß verfärbt. Sie kann die Schuppen einer ­Grünen Hundskopfboa erkennen – eigentlich ein Nachtwandler wie die Panther auch, und deswegen sollte diese Schlange jetzt gar nicht wach sein. Noch ein Tier, das zur falschen Zeit auf ist, genau wie sie! Aufgeregt richtet sich Mali auf und spitzt die Schnurrhaare.

Chumba seufzt und regt sich im Schlaf. Obwohl Mali weiß, dass ihre Schwester – wie jeder richtige Panther – am Tag nicht aufwachen kann, kauert sie sich bewegungslos auf den Boden und wartet, bis Chumba zur Ruhe kommt. Nachdem Chumba Mali den Rücken zugedreht und ihre Schnauze und Ohren unter ihrem Vorderbein vergraben hat, schnarcht sie unverdrossen weiter. Das alles dauert nicht lange, doch als Mali sich wieder der dreieckigen Öffnung zur Tagwelt zuwendet, ist der Himmel so blau wie zuvor und die geheimnisvolle Schlange ist verschwunden.

Die Anspannung weicht aus Malis Körper. Sie legt sich hin, aber ihr Schwanz und ihre Ohren zucken vor Ärger über das Adrenalin, das durch ihre Adern strömt, ohne dass sie sich abreagieren kann. Mit klopfendem Herzen senkt sie den Kopf auf ihre Vorderpfoten und macht sich wieder daran, die Ameisen zu zählen. Warum sind es immer so viele? Ihr Cousin Haze behauptet, dass es bis zu der Nacht, als Malis und Chumbas Mutter gestorben ist und Usha die beiden Schwestern bei sich aufgenommen hat, überhaupt keine Ameisen in Caldera gab.  (...) Da blitzt in ihrem Augenwinkel etwas Grün-Weißes auf. Die Schlange ist zurück!

Sofort ist Mali auf den Beinen. Ihr ganzer Körper ist ­angespannt und sie fletscht die Zähne. Mit gespitzten ­Ohren versucht sie, den Bewegungen der Schlange nach­zu­lauschen, doch die Geräusche des Regenwaldes sind zu laut: das gleichmäßige Prasseln des Regens, das schrille Zirpen der Zikaden, die kreischenden Vögel. 

Usha hat den Ort, an dem sie den Bau für ihre Familie errichtet hat, sorgfältig ausgewählt. Drum herum befindet sich ein schier undurchdringliches Gestrüpp aus Lianen und Dornenranken, es ist also unwahrscheinlich, dass die Schlange zufällig darauf gestoßen ist. Ist sie etwa auf der Jagd nach ihnen? Am liebsten würde Mali nach draußen rennen, um sich den Eindringling genauer anzusehen. Doch im Kopf kann sie Tante Ushas Stimme hören: Der Tag liegt auf der falschen Seite des Schleiers. Jedes Tier, das den Schleier übertritt, bricht die Gesetze der Natur. Jedes Tier, das die Gesetze der Natur bricht, gehört verstoßen. 

Einer von Malis Cousins aus Ushas letztem Wurf hatte die Angewohnheit, ständig leise zu wimmern. Er konnte nichts dagegen tun und schien es selbst nicht mal zu merken, doch er vermasselte ihnen dadurch ständig die Jagd. Obwohl er zu dem Zeitpunkt noch ein hilfloses Jungtier war, packte Usha ihn irgendwann am Nacken, trug ihn aus dem Bau und kehrte einige Zeit später ohne ihn zurück. Sie hörten nie wieder von ihm. Fehlverhalten wird bestraft, da gibt es nichts zu hinterfragen. 
Deswegen darf Mali auch nicht dabei erwischt werden, dass sie am Tag wach ist. 

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