True Crime

„Die Realität schreibt die spannendsten Geschichten“

27. März 2023

Wie realistisch muss ein Krimi sein? Wie wird aus Polizeiarbeit ein spannendes Buch – oder ein Filmplot? Gespräch mit einem, der sich auskennt: der Kriminalist, Profiler und True-Crime-Autor Axel Petermann. 

Axel Petermann, langjähriger Leiter der Mordkommission in Bremen, gilt als einer der besten Profiler Europas. Seit 2001 berät er unter anderem „Tatort“-Redaktionen, ist Moderator und Fallanalytiker der ZDF-Reihe „Aufgeklärt – Spektakuläre Kriminalfälle“ und schreibt True-Crime-Bücher. Ende Juni erscheint ein Roman, den er mit Co-Autorin Petra Mattfeldt nach einem wahren Fall geschrieben hat.

 

Herr Petermann, wie wird ein Kriminalist und Profiler denn Berater für Krimiautoren und Filmproduktionen? 
Thea Dorn schrieb für Radio Bremen den „Tatort“-­Fall „Der schwarze Troll“. Es ging um eine Frau, die ihre Tochter langsam vergiftete, um sich selbst als aufopferungsvolle Mutter darzustellen. Münchhausen-by-proxy-Syndrom nennt man so ein Verhalten im Fachjargon. Die „Tatort“-Redaktion hatte die Idee, sich dazu beraten zu lassen. So kam es zu einem ersten Treffen in meinem Büro. Daraus ist eine etwa 18-jährige Zusammenarbeit entstanden, bei der ich für die Bremer die „Tatort“-Plots lese und mein Know-how dazugebe.

Längst fragen auch andere „Tatort“-Teams und Krimiautoren bei Ihnen an. Worum geht es da in der Regel?
Um die Sinnhaftigkeit des Plots. Ich schaue mir die Thematik an und bringe meine Erfahrungen ein. Ich hatte kürzlich einen Kölner „Tatort“: „Spur des Blutes“. Eine Prostituierte wurde ermordet. Der Vater der LKA-Mitarbeiterin, die für DNA-­Analysen zuständig ist, war der Täter. Sie überführte ihn, weil er ein seltenes DNA-Muster hat und sie ähnliche Merkmale aufweist. Da habe ich zu den Grundlagen serologischer Untersuchungen beraten. Oder ich vermittle, wie Tatortarbeit aussieht, welche Ermittlungsmöglichkeiten es gibt.

Wann kommen Sie als Profi ins Spiel?
Das fängt oft schon beim Treatment (Handlungsskizze beim Film; Anm. d. Red.) und der ersten Drehbuchfassung an. Dann geht es hin und her: Ich gebe meine Kenntnisse dazu, dann kommt das Drehbuch wieder zurück und ich setze mich wieder hin. So ein Plot entwickelt sich und irgendwann bekomme ich das fertige Drehbuch. 

Wie wichtig ist authentische Ermittlungs­arbeit für einen guten Krimiplot?
Ich finde, sehr. Alles, was mit der Rechtsmedizin zu tun hat oder mit dem Lesen der Spuren am Tatort sollte stimmen. Was kann man von den Spuren ableiten? Was zeigen sie über die Bedürfnisse eines Täters oder wie war die Situation zwischen Täter und Opfer, als sich das Verbrechen ereignet hat? Ich finde es wichtig, dass die Geschichte auch dadurch einen Sinn bekommt und man nicht gleich sagen kann: „Ach, das ist ja Quatsch.“ 

Wie übersetzt man Polizeiarbeit in ­einen ­Krimi, ohne dass die Spannung abnimmt?
Ich kann die Arbeit nicht 1 : 1 wiedergeben. Man muss komprimieren bei Ermittlung, Spurensuche, Vernehmungen. Dabei kommt es immer auf den Plot an: Worum geht es? Wo soll Spannung sein? Ich finde, die Realität schreibt die spannendsten Geschichten. Es gibt immer wieder Verbrechen, die sich für einen „Tatort“ eignen. Der Regisseur Lars Kraume hat dies erkannt und einige meiner realen Fälle für den „Tatort“ Frankfurt inszeniert. 

Welcher reale Fall hat Sie in der Krimifassung besonders beeindruckt?
Der Fall der Alkoholikerin Agnes Brendel, wie ich sie nannte. Eine arme Frau, die sich von Männern einladen ließ und von einem ermordet und verstümmelt wurde. Mir ist eine Äußerung von ihr im Sinn geblieben: „Alle wollen mich körpern, aber niemand will mich küssen.“ Es ist nicht spannend, so etwas zu erzählen, aber es zeigt, wie episch Menschen fühlen und zu Opfern werden. Man kann Anteil nehmen. Das mag ich sehr. 

Als Kriminalist und Bestsellerautor kennen Sie sich mit der Realität und der Fiktion aus. Inwieweit ändert sich der Charakter eines Krimis, wenn ein Fall real ist?
Wenn ich Realität beschreibe, kann ich mir keine Zoten erlauben. Der fiktive Plot kann extreme Gewalt zeigen, der Schrecken ist dennoch nicht da, weil alle wissen, das hat sich jemand ausgedacht. Beim vorigen Krimifestival „Tatort Töwerland“ auf Juist haben Anna Schneider und Tatjana Kruse ihre Krimis vorgestellt, in denen es vor Grausamkeiten nur so wimmelt. Das Publikum war trotzdem amüsiert. Dann kam ich mit meinem realen Fall und alle erstarrten, obwohl ich mich zurückhalte mit brutalen Schilderungen. ­Allein die Vorstellung, das ist real, erschreckt die Menschen. 

Das heißt, True Crime ist letztlich packender als Fiktion?
True Crime kann man auf unterschiedliche Art und Weise erzählen. Die Nähe, die ich als Ermittler über viele Jahre zu den Taten hatte, haben viele Autoren ja nicht. Sie recherchieren, aber ich weiß aus eigenem Erleben, wie schlimm die Taten waren. Ich schildere die Tragödie der Opfer und versuche zu zeigen, was zur Tat geführt hat. Was das für ein Mensch ist, der zum Täter wurde, und wie man ihm auf die Spur kommen kann. Das sollten keine Fälle sein, die man mit DNA lösen kann. Das wäre zu langweilig und zerstört jeden Plot. 

Lesen Sie auch privat Krimis? 
Ja, klar! Skandinavien-Krimis finde ich gut.

Interview:  ­Anita Strecker