Alles beschleunigt sich, alles wird unwirklicher, und wenn man für einen Brathering 75 000 Mark bezahlt, kann man auch 50 000 und bald Millionen für eine Kinokarte ausgeben. Immer öfter suchen Klemperer und seine Frau Eva so Zuflucht: „Ich hatte wieder das wehmütige Gefühl, im Kino Ersatz für alle früheren Emotionen zu finden. Reisen, Theater, Kaffeehaus – alles ist hin, nur das Kino ist geblieben.“
Dieser Lebensersatz steigert die allgemeine Hektik – nicht zuletzt, weil skrupellose Kinobetreiber die Filme schneller laufen lassen, um mehr Vorstellungen ansetzen zu können. Der frühe Film lebt von Übertreibung, doch 1923 ist er noch stumm. So sehr Klemperer die Leistungen von Stummfilmstars wie der Dänin Asta Nielsen in dem Filmdrama „Der Absturz“ schätzt, so sieht er doch, dass deren Mimik, die diese Sprachlosigkeit überspielte, forciert ist.
Die Einführung des Tonfilms sollten viele Stummfilmstars und auch die Nielsen schließlich nicht überstehen. Klemperer zeigt sich indes von sogenannten Pinschewerfilmen angetan. Julius Pinschewer (1883 – 1961) war ein deutscher Pionier des Zeichentrickfilms, der im Schatten seiner amerikanischen Konkurrenz verschwinden sollte. Im Jahr 1923 gründen die Brüder Walt und Roy Disney in den USA ihr Disney Brothers Cartoon Studio, das den überzeichnet grimassierenden menschlichen Mimen die Konkurrenz von Mäusen und Enten beschert.
Während die Zeitungsmeldungen immer dramatischer und die Zahlen auf Geldscheinen und Briefmarken immer größer werden, wandelt sich die Wahrnehmung: Das gedruckte Wort, das als Untertitel noch die frühen Filme begleitet, bekommt akustische, livehaftige Konkurrenz durch das Radio. So meldet der Berliner Zigarrenhändler Wilhelm Kollhoff im Oktober 1923 als erster Gebührenzahler sein Radio ein und zahlt dafür 350 Milliarden Mark. Sein Laden in Wilmersdorf soll noch 1953 existiert haben. Man mag sich den als Insel der Ruhe und Beständigkeit in stürmischen Zeiten vorzustellen – und seinen Besitzer als einen glücklichen und nach der Währungsreform auch einen der wenigen Menschen auf dieser Welt, die sich jemals über gesunkene Rundfunkgebühren haben freuen können.
Ulrich Baron