GRAPHIC NOVEL

Speeddating mit Marx, Rousseau & Co

24. November 2023

30 Jahre nach dem Welterfolg von Jostein Gaarders „Sofies Welt“ erscheint nun der zweite Band der gleichnamigen Graphic Novel und schließt die Überführung des philosophischen Kultromans in die Gegenwart ab.

Größere Fußstapfen hätten sich die französischen Comic-Künstler Vincent Zabus und Nicoby kaum aussuchen können: In mehr als
60 Sprachen begeistert Sofie Amundsen seit 30 Jahren Jugendliche auf der ganzen Welt für Philosophie. Doch bei der Übertragung des modernen Klassikers „Sofies Welt“ in die Darstellungsform der Graphic Novel sind die beiden Autoren keinesfalls in Ehrfurcht vor der Reputation des Stoffs erstarrt – zum Glück für ihre Leser:innen. Bereits in der Danksagung war im ersten Band nachzulesen, dass es den am Projekt Beteiligten ernst mit ihrer Sache war: „Freie Hand“ habe Gaarder bei der Adaption seines Romans gewährt; getreu dem Motto der Aufklärung „Wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“.

Mitten hinein in die Gegenwart

Dabei herausgekommen ist eine hochaktuelle Version von Sofies Parforceritt durch die Geschichte der Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Die Autoren legen keine optisch und sprachlich aufgehübschte Version des Klassikers vor, sondern machen sich Gaarders Idee von der Philosophie im Alltag zu Eigen und holen sie vollständig in die Gegenwart. Klimakrise, MeToo, toxische Social-Media-Algorithmen und Aktivismus nehmen bei den Begegnungen der Protagonistin mit den zentralen Figuren der  Philosophiehistorie wie selbstverständlich ihren Platz ein.

Bereits im ersten Band reizte die Heldin die formalen Möglichkeiten der Graphic Novel aus, indem sie etwa Aristoteles’ Frauenbild samt Sprechblase in den Abgrund warf oder in Versalien „Gleichberechtigung“ an den Abendhimmel schrieb. Diese Rebellion setzte sich in Band zwei fort: Der Erkenntnis Sofies, dass sie lediglich als Comicfigur existiert, entspringt ein zeichnerisch äußerst originell umgesetztes Aufbegehren. Die selbstbewusste Titelheldin fordert nicht mehr nur ihren Lehrer Alberto, sondern auch ihre Erfinder
heraus. „Ich bin genervt!“, lässt sie diese mit wütendem Blick wissen, um sich dann plakativ über sämtliche Naturgesetze hinwegzusetzen: „Wenn wir zwei in einer ganz besonderen Welt mit all ihren Grenzen und Beschränkungen leben, dann will
ich zumindest die Vorzüge genießen“, sagt sie –und erklimmt eine Wolke, ehe sie es sich auf dem Mond bequem macht.

Der nachdenklich-mystische Jugendroman übersteht so die Überführung in die Generation TikTok, ohne irrelevant oder anbiedernd zu wirken.

Vincent Zabus, Nicoby
Sofies Welt

Übersetzt von Ina Kronenberger.
Hanser, 264 S., 25,– €,
ISBN 978-3-446-27470-9 (Bd. 1),

Sofie als scharfzüngige Kritikerin 

Dem Ansinnen Gaarders, den Einstieg in die Philosophie möglichst niederschwellig zu gestalten, zollen die Autoren mit einem augenzwinkernden Blick auf die ganz Großen Respekt. So teilen sich beispielsweise Montesquieu, Voltaire und Rousseau einen Körper und müssen sich dafür von Sofie als „Mischmasch“ der Aufklärung belächeln lassen. Die Transformation der neugierigen, aber braven Sofie aus Gaarders Roman in eine selbstbewusste Aktivistin der Gegenwart gelingt so mit Bravour. Im zweiten Teil ihrer philosophischen Reise kommt Sofie in der Neuzeit an, diskutiert mit Spinoza den Klimawandel, kritisiert den Zigarettenkonsum Albert Camus’ und trifft zu guter Letzt eine Vordenkerin. Zabus’ und Nicobys Hauptfigur ist nie nur eine Lernende, sondern zugleich eine scharfzüngige Rezensentin ihrer Lehrmeister. Der nachdenklich-mystische Jugendroman übersteht so die Überführung in die Generation TikTok, ohne irrelevant oder anbiedernd zu wirken. Allein das ist für einen Roman, der sich vor allem an ein jugendliches Publikum richtet, bemerkenswert. In keiner anderen Entwicklungsphase sind Sprache und Interessen schließlich so eng mit dem Zeitgeist verwoben. Es gelingt den Autoren zudem, beim Verpacken des dichten Inhalts auf veränderte Mediengewohnheiten einzugehen. Eine Generation, die mit einem permanenten Überangebot an Informationsschnipseln
aufwächst, liest anders.

Zabus’ und Nicobys höchst unterhaltsame Bildsprache ist mit Metawitzen für Expert:innen gespickt und bündelt in den prägnanten Darstellungen gleichzeitig erstaunliche Mengen an Sachinhalten für komplette Neulinge. Obwohl die Abhandlung der einzelnen
Epochen einem Speeddating gleicht, setzen die Autoren bewusst Pausen. So lässt sich jede Strömung nachträglich erneut auf wenigen Seiten einzeln nachvollziehen. Bei der Fülle an Informationen stellt die klare Gliederung sicher, dass der womöglich wichtigste Aspekt
des Originals gewahrt bleibt: der Anspruch, nicht vom Denken abzuschrecken, sondern dazu einzuladen. „Es gibt Fragen, die sich alle Menschen stellen sollten.“ Das sagt Sofies Lehrer Alberto, das zeichnen Zabus und Nicoby, das schrieb einst Gaarder. 

Bei aller Unabhängigkeit vom Original endet die philosophische Reise folgerichtig mit einer Hommage an den Verfasser der Vorlage: Die Autoren verlängern den Zeitstrahl der Philosophiegeschichte bis in die Gegenwart – und nehmen den Norweger selbst in die
Runde der großen Denker auf.

Text: Katrin Freiburghaus

Über die Autoren

Vincent Zabus, geboren 1971, ist Literaturwissenschaftler, Französischlehrer sowie Autor zahlreicher Comicbücher und  Theaterstücke. Nicoby, geboren 1976, ist Comicautor und -zeichner. Die zweibändige Graphic Novel „Sofies Welt“ ist das Debüt des Duos bei Hanser. Die Romanvorlage des norwegischen Philosophen, Theologen und Literaturwissenschaftlers Jostein Gaarder erschien 1993 auf Deutsch, ebenfalls im Hanser Verlag.

Vincent Zabus, Nicoby
Sofies Welt

Übersetzt von Ina Kronenberger.
Hanser, 264 S., 25,– €,
ISBN 978-3-446-27795-3 (Bd. 2)