Leseforschung

Im Sog der ­Geschichten

8. Dezember 2023

Die Surferin, die die Welle reitet, oder der Kletterer in der Steilwand: Im Flow spüren wir keinerlei ­Anstrengung, gehen ganz auf in ­unserem Tun. Die Psychologin Birte Thissen erklärt, wie wir auch beim Lesen in den Flow kommen.

Flow, das klingt nach Sichtreibenlassen, beinahe passiv; aber die Forschung zeigt, wir kommen nur in diesen besonderen Zustand, wenn wir sehr aktiv sind. Wie passt das zum Lesen? Auf den ersten Blick nicht, auf den zweiten sehr gut. Denn so passiv und kontemplativ wie das Lesen zunächst wirkt, ist es gar nicht. Das Gehirn erbringt dabei Höchstleistungen. Lesend erstellen wir ein mentales Modell des Beschriebenen. Wir bauen in Gedanken ganze Städte nach, die wildesten Fantasy-Welten, sehen die Figuren plastisch vor uns und meinen, genau zu wissen, was sie fühlen. Dabei greifen wir auf unsere Erfahrung zurück, auf unser bisheriges Wissen über die Welt. So ergänzen wir auch die Lücken im Text und werden dabei kreativ. 

Das hört sich anstrengend an. Das ist es auch. Aber das Schöne am Flow ist ja, dass wir die Anstrengung nicht spüren. Alles scheint uns ganz leicht zu gelingen. Wir sind hoch konzentriert, aber fühlen uns in keinem Moment erschöpft oder überfordert. Das ist vermutlich auch der evolutionäre Nutzen des Flow: Weil wir die tatsächlichen Mühen ausblenden können, bleiben wir länger und konzentrierter bei der Sache und können so wichtige Fähigkeiten trainieren. Das war früher ein Über­lebensvorteil. 

Was ist noch kennzeichnend für den Flow-Zustand? Wir gehen so in der Aktivität auf, dass wir uns dabei selbst vergessen. Und das ist ganz wortwörtlich gemeint. Im Flow-Zustand ist das Gehirn so intensiv mit der jeweiligen Aktivität befasst, dass wir nicht auch noch an uns selbst denken können. Das Ich­bewusstsein wird gewissermaßen ausgeknipst. Entsprechend gilt aber auch, dass wir schwerer in den Flow kommen, wenn wir uns unserer selbst gerade sehr bewusst sind: etwa wenn wir uns beobachtet fühlen oder wenn wir unbequem sitzen.

Und wie sieht’s mit der geeigneten Lektüre aus? Flow entsteht dann, wenn wir uns ein klein wenig – aber auch nicht zu sehr – strecken müssen. Es gilt, das für uns jeweils perfekte ­Herausforderungsniveau zu erreichen. Mit welchen Texten das gelingt, ist natürlich individuell. Krimifans werden einen speziellen Plot vielleicht schon als zu vorhersehbar empfinden und sich langweilen, während weniger erfahrene Krimileser noch begeistert miträtseln. Und jemand, der gern zwischen den Zeilen liest, fühlt sich vielleicht unterfordert, wenn in einem Buch alles auserzählt wird, und kommt deshalb nicht in den Flow. 

Den Flow beim Lesen erforschte die promovierte Psychologin Birte Thissen bereits als ­wissenschaftliche ­Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Empirische ­Ästhetik und an der Universität ­Hamburg. ­Aktuell ist sie Walter-­Benjamin-Stipendiatin an der New York ­University. 

Gibt es auch Menschen, die beim Lesen keinen Flow empfinden? Ja, mein Exfreund zum Beispiel (lacht). Wir haben mal ausprobiert, ob ich beim Computerspielen, seinem Lieblingshobby, in den Flow komme und er beim Lesen. Bei uns beiden hat es nicht geklappt. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass ich besser darin bin, mich gründlich in etwas zu vertiefen und konzentriert dabeizubleiben, während es ihm mehr liegt, schnell zu reagieren und immer wieder zwischen den verschiedensten Anforderungen hin- und herzuwechseln. 

Es ist also von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich, was uns jeweils in den Flow bringt? Ja. Mihály Csíkszentmihályi, der Vater der Flow-­Forschung, hat immer wieder betont, wie wichtig Flow für unsere Persönlichkeitsentwicklung ist und dafür, zu uns selbst zu finden. Flow kann ja wie ein Talente- und Interessenverstärker wirken, indem er uns motiviert, uns immer weiter mit dem zu befassen, was uns ohnehin schon liegt und uns ausmacht.

Birgt das nicht die Gefahr, sich einseitig zu spezialisieren? Das kommt natürlich auf die jeweilige Flow-Aktivität an. Aber das Lesen fördert ja glücklicherweise eine ganze Bandbreite von Fähigkeiten: Sprachverständnis, Vorstellungsvermögen, Einfühlungsvermögen, um nur einige zu nennen. Außerdem hat, wer liest, die schöne Möglichkeit, sich in viele fiktive Leben hineinzubegeben und so in der Fantasie die verschiedensten Welten, Daseinsformen, sozialen Situationen und Konstellationen einmal auszuprobieren und aus ihnen zu lernen. Das ist alles andere als einseitig. •