CHRISTINE THÜRMER

Mit Kriemhild in Floridas Sümpfen

16. Juni 2023

Langstreckenwanderin und Buchautorin Christine Thürmer über Literatur beim Laufen – und warum Krimis immer zuerst an der Reihe sind.

Sie dürfte die bekannteste Langstreckenwanderin Deutschlands sein, die Hälfte des Jahres ist sie wandernd unterwegs. Weniger bekannt ist, dass Christine Thürmer eine passionierte Leserin ist. Die 55-Jährige hat sich sehr gefreut, dass sie endlich mal nach ihren Buchvorlieben befragt wird und nicht nach gefährlichen Begegnungen mit Bären, Wölfen und Schlangen. Ein unverhofftes Gespräch über den Zauber, der entsteht, wenn sich Literatur und Natur begegnen.  

Frau Thürmer, Sie sind die Meisterin des kleinen Gepäcks, sägen Zahnbürstengriffe ab, um Gewicht zu sparen, sind ultraleicht mit fünf Kilo unterwegs. Sie würden nie ein Buch einpacken, oder?
Das stimmt so nicht.
 
Aha …
In Australien oder in den USA zum Beispiel gibt es wenige, aber sehr populäre Wanderwege mit Schutz­hütten am Wegesrand. Dort lassen die Wandernden das zurück, was sie nicht mehr brauchen, aber andere gebrauchen könnten. 

Etwa Bücher?
Ja, die nehme ich dann mit. Und weil man sie nicht entsorgen kann, führe ich – zumindest die weniger gehaltvolle Lektüre – einer Zweitverwertung zu. Als Klopapier. Das zwingt einen, mindestens zwei Seiten pro Tag zu lesen (lacht). 

Welchen Stellenwert hat Lesen, haben Bücher in Ihrem Leben? ­
Einen sehr hohen. Deshalb freue ich mich so über dieses Interview. Es gibt mehr Bezüge, als Sie vermutlich er­warten. Ich habe neben englischer ­Literaturwissenschaft und Linguistik ­nämlich Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation studiert. Der ­Titel meiner nicht beendeten Disser­­ta­tion lautete: „Die Vermarktung von Bestsellern“. Es ging um die 1980er Jahre, in denen Michael Ende mit „Momo“ und Umberto Eco mit „Der  Name der Rose“ große Erfolge ­feierte. 

Und nun verfassen Sie selbst Bestseller.
Schon als ich anfing zu wandern, kamen die ersten Anfragen von Buchverlagen. Ich habe zuerst abgelehnt. Bis dann Cheryl Strayed „Wild“ und Bill Bryson „Picknick mit Bären“ veröffentlichte. Die Bücher wurden verfilmt, kamen auch in Deutschland in die Kinos, waren erfolgreich. Da wurde mir klar: Wenn ich jemals ein Buch über meine Wanderungen schreiben will, dann jetzt. 

Wie haben Sie schließlich einen Verlag gefunden?
Über eine Agentin. Das Buch wurde versteigert, so bin ich beim Malik Verlag gelandet. Ich hatte mir gesagt: Wenn ich schon ein Buch schreibe, dann soll es auch ein Best­seller werden.

Wow, große Ziele …
Mit einem schlechten Start. Das erste Kapitel hat meine Agentin in der Luft zerrissen. „Das darf nie jemand zu Gesicht bekommen“, sagte sie. „Deine Konkurrenz sind nicht andere Bücher, deine Konkurrenz ist das Kino. Also: Show, don’t tell!“ 

Und dann?
Habe ich die Arschbacken zusammengekniffen und alles noch mal geschrieben. Dabei kamen mir dann die Erfahrungen aus der Werbung zugute. 

In der Regel schleppen Sie aber keine Bücher durch die Gegend.
Ich habe von Anfang an Hörbücher gehört. 

Aber verpassen Sie so nicht das Naturerlebnis?
Sie stellen sich das zu romantisch vor. Wandern ist mein Job. Röhrende Hirsche und im Wind rauschende Blätter sind für mich etwas ganz Gewöhnliches. Das muss ich nicht hören. Außerdem haben Sie beim Langstreckenwandern immer Durststrecken, wo Sie stundenlang an Straßen laufen oder auf hässlichen Verbindungswegen. Das nervt. Ein Hörbuch zu hören ist dann eine Belohnung für mich, das Dessert beim Essen sozusagen.

Ich lief durch die Sümpfe, hörte ­Siegfried und das Drachenblut, ­neben mir ­schwammen die ­Alligatoren. Das war krass.

Christine Thürmer

Waren Hörbücher schon so verbreitet, als Sie mit dem Wandern begannen?
Nein. Das führte zu der Skurrilität, dass ich alles auf Micro-­SD-Karten speichern musste, die aber nur zwei Gigabyte Platz boten. Handys haben heute locker 256 Gigabyte. Ich habe mich deswegen gezwungen, erst eine SD-Karte zu Ende zu hören, bevor ich mit der nächsten begonnen habe. Den Anfang machten die Krimis, dann kamen die Liebesromane und die ernsteren Themen, schließlich die Klassik. Auf der letzten Speicherkarte war das Nibelungenlied in Mittelhochdeutsch und in neudeutscher Übersetzung, gelesen von Peter Wapnewski. Zehn Stunden.

Das haben Sie sich alles angehört?
Ich war gerade auf dem Florida-­Trail unterwegs, das war absolut faszinierend, ich konnte gar nicht mehr aufhören. Ich lief durch Sümpfe, hörte Siegfried und das Drachenblut, und ­neben mir schwammen die Alligatoren. Das war krass. Es hat mich so gefangen genommen, weil die Konflikte und Fragen so modern sind, Rache und Loyalität. So ist eigentlich auf allen Wanderungen ein Thema besonders hängen geblieben.

Zum Beispiel?
Auf Kreta habe ich ­Kazantzakis gehört. „Alexis Sorbas“ ­gehört zu meinen absoluten Lieblingsbüchern. Eine Ode ans Leben. Auf der Insel habe ich mir das Museum angesehen und bin an sein Grab in Heraklion gepilgert. Ich höre bewusst Literatur aus dem Land, in dem ich mich gerade befinde. In England etwa Jane Austen und natürlich Shakespeare, wobei mir der schnell zum Hals raushing. Mich interessieren aber auch geschichtliche Themen; bei meiner Polenwanderung zum Beispiel habe ich Hörbücher über die Nürnberger Prozesse gehört.  

Welche Autoren können besonders gut Natur und Naturerleben beschreiben?
(überlegt länger) Ich muss jetzt mal ausweichen. 

Wie denn?
Als ich zu Corona-Zeiten durch Italien gewandert bin, habe ich Seumes „Spaziergang nach Syrakus“ gehört. Da ist mir aufgefallen, dass die Probleme des Wandernden immer dieselben sind, auch nach 150 Jahren: Woher bekomme ich Wasser und was zu essen, wo kann ich übernachten? Total verblüffend. Die Hälfte des Buchs handelt davon, oft hat sich Seume über das schlechte Essen in den Nachtlagern ausgelassen. Aber das Beste kommt noch.

Nämlich?
Ich habe mich mit meinem neuesten Buch für den Seume-Literatur­preis beworben. Der wird alle zwei Jahre verliehen. Ich schreibe ja keine Literatur, aber immerhin bin ich die Strecke von Seume beinhart durchgelaufen, während er damals immer wieder ins Boot gestiegen ist, um Passagen zu überbrücken. Ich bin gespannt.

Es wundert mich, dass Sie nicht öfter Buchzeitschriften Interviews geben.
Ja, endlich mal jemand, der mich entdeckt (lacht). Das Schöne am Wandern ist: Man hat die Zeit, den Gedanken freien Lauf zu lassen. Es ist ein bisschen wie in der Jugend, als man über die größeren philosophischen Fragen nachdachte. Dann kommen Beruf und Familie, und plötzlich drehen sich die Gedanken nicht mehr um den Sinn des Lebens, sondern um die nächste Kundenpräsentation oder die Kinder. 

Kennen Sie dieses Zitat? „Wandern ist die vollkommenste Art der Fortbewegung, wenn man das wahre Leben entdecken will. Es ist der Weg in die Freiheit.“
Nein.

Es stammt von der Schriftstellerin Elizabeth von Arnim: Würden Sie zustimmen?
Absolut. Ich bin ja nicht nur als Wanderin unterwegs, sondern habe auch 30 000 Kilometer auf dem Fahrrad zurückgelegt und 6 500 Kilometer mit dem Kanu. Ich mag das auch, aber Wandern ist perfekt, denn für alle anderen Fortbewegungsformen benötigt man Infrastruktur oder teures Material. Zu Fuß kommt man überallhin und braucht wenig Ausrüstung. Irgendjemand hat mal zu mir gesagt: „Wenn man Ihnen zuhört, wird man daran erinnert, dass Wandern die demokratischste Outdoorsportart ist.“ Das stimmt: Wandern kann jeder, ob arm oder reich, dick oder dünn. 

Ihre normale Literaturausstattung fürs Wandern, ist die eher klassisch oder eher modern?
Queerbeet. Die Mischung macht’s. Krimis sind immer gut, da muss man sich nicht überwinden. ­Serien wie die Eifelkrimis von Jacques Berndorf, Klüpfel und Kobr oder Rita Falck.

Und die Klassik?
Eigentlich bin ich eine Schnellleserin – 100 Seiten pro Stunde. Hörbücher funktionieren anders, und das hat mir neue Autoren ­erschlossen, zum Beispiel Eichendorff oder Kleist. Ich liebe Kleist, er ist ge­nial. „Michael Kohlhaas“ hat mich ewig beschäftigt. Aber lesen könnte ich Kleist nie, für eine Schnellleserin ist der Mann eine Tortur. 

Sie haben die Klassiker also tatsächlich erst durch das Wandern kennengelernt?
Das nicht, aber die Begeisterung dafür ging mir zunächst ab. Das hat sich erst durch das Wandern geändert. Kleist lässt mich gelesen völlig kalt, aber gesprochen tut sich mir eine völlig neue Welt auf. 

Gilt die folgende Formel: Wenn Sie wandern, hören Sie, und wenn Sie nicht wandern, lesen Sie?
Könnte man so sagen. Wobei: Ich wohne ja in Berlin-Marzahn, sechster Stock, Plattenbau. Egal, wohin ich in Berlin will, ich bin fast immer eine Stunde mit dem Fahrrad unterwegs. Dann höre ich auch schon mal Hörbücher, aber natürlich nicht das Nibelungenlied im Berliner Berufsverkehr. 

Bestsellerlisten oder Buchpreise, beeinflussen die Ihre Auswahl?
Gar nicht. Ich suche ja, was zur Tour passt. Die Literatur zum jeweiligen Land, in Bayern eben Bayern-Krimis, in Spanien „Don Quichotte“. 

Was bewegt Ihre Seele mehr: wandern oder lesen?
Die Kombination macht es. Ich habe früher viel gelesen, dann kam das Internet und hat mich abgelenkt. Aber beim Wandern kann ich nicht surfen, das verbraucht zu viel Akku, und so komme ich mittlerweile wieder auf einen guten Bücherschnitt. 

Wie viel schaffen Sie?
Am Tag höre ich im Schnitt sechs Stunden. Ein Hörbuch dauert etwa acht bis zehn Stunden. Das heißt, alle zwei Tage habe ich ein Buch durch. 

Verändert sich das Reisen durch Ihr Schreiben und die Vorträge, geht Ihnen das originäre Erlebnis verloren?
Ein Nein, ganz vehement. Das ist mir wichtig. Die meisten Autorenkolleg:innen haben vorher eine Idee, worüber sie schreiben wollen, und ziehen dann los. Dann haben die aber auch den Druck, was zu erleben, denn sie müssen ja darüber schreiben. Mein Verlag wollte das anfangs auch, aber ich mache das nicht. Ich sage ihm auch vorher nicht, wohin ich fahre. Italien zum Beispiel war eine großartige Reise, aber da ist nichts Besonderes passiert. Manchmal habe ich auch Lust, gar nichts zu erleben. Mir ist das zu viel. Deshalb lasse ich mich auch nicht sponsern. Ich liebe zum Beispiel Ost­europa, und wenn ich dann durch die ungarische Tiefebene liefe, würde der Sponsor sagen, oh wie langweilig, und politische Probleme gibt das auch. Aber ich möchte wandern, wo ich möchte. 

Sie haben vier Bücher geschrieben. Wie halten Sie Ihre Eindrücke fest?
Ich habe früh angefangen auf Facebook zu posten, und das ist letztlich mein öffentliches Tagebuch. Ich poste mit preußischer Disziplin, jeden Morgen um sechs Uhr. Meine Fans sagen, ich sei ihr kostenloses Netflix, oder weniger charmant, das Erste, was sie sich morgens beim Toilettengang anschauen. Facebook ist Grundlage meiner Bücher, da gibt es Fotos und Notizen, ich muss also nichts mitschreiben. 

Sind Sie Vorbild für andere Menschen? Ja, vor allem für Frauen, die sich nicht trauen, allein loszuziehen. Und weil ich auch immer den politisch-kulturellen Hintergrund in meinen Büchern transportiere, stehen bei meinen Auftritten auch 80-jährige Frauen mit Rollator vor mir und kaufen drei Bücher über Langstreckenwandern. Das macht mich glücklich. 

Interview: Marcus Meyer

Über die Sachbuchautorin und Langstreckenwanderin

Die ehemalige Unternehmensberaterin Christine Thürmer, 1967 in Forchheim  geboren, begann 2007 mit dem Langstreckenwandern. Seitdem hat sie rund 60 000 Kilometer zu Fuß, 30 000 mit dem Fahrrad und 6 500 mit dem Kanu zurückgelegt. Vier Bücher hat sie über ihre Erlebnisse geschrieben – allesamt Bestseller. Was sie beim Wandern glücklich macht? Das Körpergefühl und das Selbstbewusstsein, wenn man sich durchgebissen hat.