Es gibt noch Hoffnung für die Literatur
In der Kolumne "Gemischte Meinung" bemängelt Şeyda Kurt das Fehlen zeitgemäßer, queerer und feministischer Erotikliteratur.
In der Kolumne "Gemischte Meinung" bemängelt Şeyda Kurt das Fehlen zeitgemäßer, queerer und feministischer Erotikliteratur.
Sie ist vermutlich indischen Ursprungs, wurde in Persien urverfasst, im 8. Jahrhundert erst durch islamische Expansion ins Arabische übersetzt, dann im Zuge des europäischen Kolonialismus auch im sogenannten Abendland berühmt: die Geschichtensammlung aus „1001 Nacht“, eines der bedeutendsten Werke der Weltliteratur. Sie ist im Westen oftmals als Kindermärchensammlung verkannt worden. Dabei glänzt das Original eigentlich durch erotische Feinheit.
Die in Europa verbreitete Interpretation des Werks zeugt von der Biederkeit des feudalen christlichen Westens: Die erstmalige Übersetzung des französischen Orientalisten Antoine Galland, Anfang des 18. Jahrhunderts, war zwar ein Kassenschlager, wie wir es heute nennen würden. Doch die Bücher dienten damals vor allem der Unterhaltung gelangweilter Hofdamen. Exotisierende Darstellungen waren willkommen, man bestätigte so am Hofe gern die eigene Überlegenheit gegenüber den vermeintlich morgenländischen, barbarischen Fremden. Doch Erotik? Mais non, incroyable!
Literatur, die körperliches Begehren vielfältig, widerspenstig, tatsächlich aufregend, wenn nicht sogar feministisch zeichne? Fehlanzeige.
Seyda Kurt
Nun könnte man sagen: Der Feudalismus hat die Erotikliteratur zerstört. Doch leben wir ja längst in der spätkapitalistischen Moderne, die sich gerade durch ihr Konsumversprechen rühmt, alle Nachfragen zu befriedigen. Und dennoch scheint sich eines nicht geändert zu haben: Es gibt keine herausragende erotische Literatur, zumindest nicht im deutschsprachigen Raum.
Erotische Literatur darf von mir aus explizit pornografisch sein. Aber bitte nicht peinlich obszön und vor allem nicht den austauschbaren Fantasien mittelalter Heteromänner entsprungen! Darüber diskutierte kürzlich die Schriftstellerin und Kolumnistin Jovana Reisinger im Podcast des Hanser Verlags. Sie führe eine lange Liste an motorisierten Blowjob-Beschreibungen in Romanen, natürlich aus den Federn männlicher Kollegen. Aber Literatur, die körperliches Begehren vielfältig, widerspenstig, tatsächlich aufregend, wenn nicht sogar feministisch zeichne? Fehlanzeige.
Also ist nicht nur der Feudalismus schuld, sondern auch das Patriarchat. Und kapitalistische Verwertungslogiken ja sowieso, die im Literaturbetrieb jenen Erzählungen den Vorzug geben, die gemeinhin bekannt und verkaufbar sind. Doch gerade queere – und kommerziell meist unbeachtete – Literatur sei da visionär, so Reisinger. Sie störe tradierte Erzählungen von Geschlecht und Begehren und schreibe die Widersprüche auf, die Sex doch gerade so spannend machen. Es gibt also noch sexy Hoffnung für die Literatur. •