KOLUMNE Gemischte Meinung

Polyglotte Verbundenheit

21. April 2023

Gemischte Meinung – in diesem neuen Format im Buchjournal schreiben im Wechsel drei Kolumnist:innen über Themen, die aus ihrer Sicht die Gesellschaft, die Welt der Bücher oder beides bewegen. Dieses Mal meldet sich die Autorin Elisabeth Wellershaus zu Wort.

Gelegentlich stellt sich bei mir ein kleiner Widerwille ein, wenn mir Übersetzungen von Texten in die Hände fallen, die ich lieber im Original lesen würde. Es hat durchaus seinen Reiz, Romane, Lyrik oder Sachliteratur in „fremden“ Sprachen zu erfassen – dem besonderen Klang dieser Sprachen zu folgen, den rhythmischen Eigenheiten, den einzigartigen Wortbedeutungen.

Doch längst nicht alle Menschen in Deutschland haben biografisch oder bildungsbedingt Zugang zu Mehrsprachigkeit. Ohne Übersetzungen hätten also schon Literaturen aus beliebten Weltsprachen wie Spanisch, Englisch oder Französisch es hierzulande schwer. Vor allem aber würden Geschichten aus Regionen übersehen, die jenseits von westlichen und europäischen Erfahrungen stattfinden. Texte von Autor:innen, deren literarische Verdichtungen uns von ihren Heimatländern oder von ihrer Sicht auf Deutschland erzählen könnten – von Verbindung und Ausgrenzung. Arabisch, Persisch oder Tigrinya etwa sind Sprachen, die in anderen Teilen der Welt teils weit verbreitet sind, hier jedoch einen geringen „Marktwert“ haben. Und nicht selten bleiben Autor:innen, die in diesen Sprachen schreiben, im deutschen Literaturbetrieb unsichtbar.

Ein kleiner Teil des riesigen Geschichten-Schatzes, den sie hüten, findet sich dieses Jahr in den Nominierungen der Leipziger Buchmesse für den Übersetzungspreis wieder. Neben Übertragungen aus dem Schwedischen, Französischen und argentinischen Spanisch trifft Nicole Naus deutsche Fassung eines lettischen Familienromans dort auf Lina Atfahs wunderschöne Lyrik – übersetzt von ihrem Ehemann Osman Yousufi, nachgedichtet von Brigitte Oleschinski und zweisprachig erschienen.

Arabisch, Persisch oder Tigrinya etwa sind Sprachen, die in anderen Teilen der Welt teils weit verbreitet sind, hier jedoch einen geringen „Marktwert“ haben.  Nicht selten bleiben Autor:innen, die in diesen Sprachen schreiben, im deutschen Literaturbetrieb unsichtbar.

Elisabeth Wellershaus

Seitdem ich für ein Berliner Literaturportal arbeite, das Autor:innen aus sogenannten Krisenregionen beim Weiterschreiben in Deutschland unterstützt, lerne ich von Schriftsteller:innen wie Atfah. Unter anderem erschließen sie mir neue Perspektiven auf die Herausforderungen der Übersetzung. Eine syrische Kollegin erzählte einmal von ihrem Albtraum, sich im Deutschen plötzlich selbst nicht mehr verstehen zu können. Nur um sich im nächsten Moment zu wünschen, ihr eigenes Sprachprogramm ließe sich, wie bei Netflix, umstellen, um der eigenen Tochter eine deutsche Gutenachtgeschichte fehlerfrei vorzulesen. Der oft mühevolle Versuch, Grenzen zu überwinden, ist ein charakteristisches Merkmal der Übersetzung. Welch schwindelerregende Vorstellung, was an Welterfahrung alles möglich wäre, wenn wir darüber noch viel mehr Stimmen hörten. Wenn wir der Dominanz tonangebender Sprachen etwas entgegenstellten – und der polyglotten Verbundenheit Raum gäben. •

Elisabeth Wellershaus ist Journalistin und Autorin. Sie gehört zum Redaktionsteam der Kolumne „10 nach 8“ bei ZEIT Online und arbeitet als Redakteurin für das Kunstmagazin „Contemporary And“.