Preis der Leipziger Buchmesse

Preisgeschenke zum 18. Geburtstag

23. April 2023

Aus 465 Werken von 161 Verlagen hat die siebenköpfige Jury ihre Favoriten für den Preis der Leipziger Buchmesse gewählt. Das Buchjournal stellt die 15 in drei Kategorien Nominierten vor. Und das sind die Siegertitel: 

Die Siegertitel

In der Kategorie Belletristik geht der Preis der Leipziger Buchmesse an Dinçer Güçyeter für sein Buch „Unser Deutschlandmärchen“ (mikrotext). 

In der Kategorie Sachbuch / Essayistik hat Regina Scheer gewonnen mit „Bittere Brunnen: Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution“ (Penguin). 

In der Kategorie Übersetzung geht der Preis der Leipziger Buchmesse 2023 an Johanna Schwering, sie übersetzte aus dem argentinischen Spanisch „Die Cousinen“ von Aurora Venturini (dtv). 

Der 18. Geburtstag ist immer eine große Sache. Das gilt in diesem Jahr ganz besonders für den Preis der Leipziger Buchmesse. Nach drei Pandemie-Jahren mit virtuellen Preisverleihungen waren die 17 Autorinnen und Autoren der 15 nominierten Werke in drei Kategorien endlich wieder hautnah und greifbar auf dem Leipziger Messegelände und in der Stadt zu er­leben – mit dem Höhepunkt der öffentlichen Feier  in der Glashalle auf dem Messegelände.

Und alle, die schon mal dabei waren, können bezeugen, wie emotional es für die Beteiligten ist: für das Publikum, die Nominierten, die siebenköpfige Jury – letztlich für die gesamte Branche und den Buchmarkt. Der Preis der Leipziger Buchmesse gilt als eine der wichtigsten Auszeichnungen, mit der die herausragenden Titel eines Jahres prämiert werden. Außergewöhnlich deshalb, weil es kein reiner Literaturpreis ist, er vielmehr in den drei Kategorien Belletristik, Sachbuch / Essayistik und Übersetzung vergeben wird. 2005 wurde die mit insgesamt 60 000 Euro dotierte Auszeichnung aus der Taufe gehoben. Das Buchjournal ist seit vielen Jahren Medienpartner der Auszeichnung.

Die Jury
„Juryarbeit macht dann besonders Spaß, wenn eine Jury sich im Gespräch gemeinsam weiterentwickeln darf, aber durch den Wechsel einiger Mitglieder nach ein paar Runden immer auch wieder neue Impulse bekommt.“ So bringt es die Literaturkritikerin Insa Wilke auf den Punkt, die 2021 den Juryvorsitz beim Preis der Leipziger Buchmesse übernommen hat. Der Wechsel ist in Leipzig Programm. Aktuell gehören dem Gremium an: der Literaturprofessor Moritz Baßler ­sowie die Literaturredakteurinnen und -redakteure ­Anne-Dore Krohn, Andreas Platthaus, Shirin Sojitrawalla, Maryam Aras und Cornelia Geißler. • Anita Strecker

BELLETRISTIK

Welche Texte überzeugen in ­ästhetischer Hinsicht? Welche künstlerischen Mittel gestalten den Stoff? Was gab es in der Form noch nie zu lesen? Dies sind nur einige Kriterien, auf die sich die Jury verständigt hat.

1) Gewaltsame Wandlungen 

In ihrem dritten Roman zum Thema Flucht und Vertreibung erzählt die vielfach preisgekrönte Romanautorin, Lyrikerin und Essayistin Ulrike Draesner von Gewalt, die Frauen durch Krieg erleben. Gewalt, die verstummen lässt, Identitäten verändert, in Töchtern nachwirkt. In ihrer Sprache spiegelt Draesner die Wandlungen, aber auch die Kraft der Frauen, zu überleben und sich neu zu erfinden.

Ulrike Draesner
Die Verwandelten
Penguin, 608 S., 26,– €,
ISBN 978-3-328-60172-2

2) Riesenlibellen in Gluthitze

Sein Werk ist aufsehenerregend: Joshua Groß, 1989 nahe Nürnberg geboren, vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Anna Seghers-Preis. Eigenwillig, ­humorvoll, fantastisch ist auch sein autofiktionaler Roman „Prana Extrem“. Im ­Hitzesommer in Tirol geht es zwischen Softdrinks, Rap, Riesenlibellen und Skispringen um die Innensicht der 30-Jährigen und Allianzen in der Klimakrise.

Joshua Groß
Prana Extrem
Matthes & Seitz, 301 S., 24,– €,
ISBN 978-3-7518-0086-0

3) Hoffnung im Gepäck  

Dinçer Güçyeter, 1979 in Nettetal geboren, ist Theatermacher, preisgekrönter ­Lyriker, gelernter Werkzeugmacher und geübt darin, beruflich mehr als ein Doppel­leben zu führen. 2011 gründete Güçyeter den ElIF Verlag, den er als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit finanziert. In seinem ­Debütroman erzählt er vielstimmig und voller Poesie von seiner Familie als „Gastarbeiter“ der ersten Generation.

Dinçer Güçyeter
Unser Deutschlandmärchen
Mikrotext, 216 S., 25,– €,
ISBN 978-3-948631-16-1

4) Isoliert im eigenen Weltbild

Nahezu 20 Auszeichnungen hat Clemens J. Setz bereits erhalten. Darunter den ­Georg-Büchner-Preis – und 2011 den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse. Jetzt zählt der 40-jährige Österreicher erneut zu den Nominierten. Er dringt tief ins Weltbild eines Egozentrikers ein. Die todbringende Brutalität der Nazis bleibt Seitenstrang. Laut Jury „ein großer Wurf“ für den historischen Roman.

Clemens J. Setz
Monde vor der Landung
Suhrkamp, 528 S., 26,– €,
ISBN 978-3-518-43109-2

5) Vergessene Emanzipation

Voltaire, Lessing, Goethe – und zum Geist der Aufklärung Bachs grandiose Musik. Angela Steidele lässt die unbekannte Tochter Dorothea Bach sprechen und kluge Frauen wie Luise Gottsched debattieren. Angela Steidele recherchiert akribisch und schreibt literarisch und mit Witz. Laut Jury „höchst gegenwärtig“, da sie Debattenstoffe wie Meinungsfreiheit oder Gleichberechtigung verhandelt.  

Angela Steidele
Aufklärung
Insel, 603 S., 25,– €,
ISBN 978-3-458-64340-1

SACHBUCH / ESSAYISTIK

Warum ist dieses Thema inter­essant? Wie lebendig und ­dabei wissenschaftlich exakt werden Dinge erklärt? Sachbücher sind hohe Kunst: Sie sollen Wissen mehren, ­Debatten anstoßen und argumentieren, ohne zu agitieren.

1) Querdenkern auf der Spur 

Wer sind die Querdenker, die Wissenschaftsleugner, die Demokratieverdrossenen? Die Literatursoziologin Carolin 
Amlinger und Oliver Nachtwey, Professor für Sozialstrukturanalyse und Autor der preisgekrönten Analyse „Die Abstiegsgesellschaft“, suchen anhand von Fallstudien Antworten und erläutern die sozialen Gründe, die zum vielschichtigen Bild unserer Gesellschaft führen.

Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey 
Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus
Suhrkamp, 480 S., 28,– €,
ISBN 978-3-518-43071-2

2) Der Erfinder des Romans  

Jan Philipp Reemtsma, geboren 1952, Professor für Neuere deutsche Literatur und unter anderem Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung, erinnert an einen Paten der deutschen Aufklärung und der Literatur: an Christoph Martin Wieland. Die Jury schwärmt: „Nach der Lektüre wissen wir, was wir Wieland schuldig geblieben sind, und wollen ihn sofort wieder oder erstmals lesen.“ 

Jan Philipp Reemtsma
Christoph Martin Wieland 
C.H.Beck, 704 S., 38,– €,
ISBN 978-3-406-80070-2 

3) Erzählte Zeitgeschichte

Die deutsch-jüdische Geschichte ist ein zentrales Thema der Berliner Autorin 
Regina Scheer. Mit der Jüdin Hertha ­Gordon-Walcher, einst Sekretärin Clara Zetkins, hat Scheer über 20 Jahre ein Gespräch geführt: über Flucht und Exil, ihre politische Überzeugung und Mitstreiter wie Rosa Luxemburg, Bertolt Brecht oder Willy Brandt. Die „teilnehmende Biographie“ hat die Jury überzeugt. 

Regina Scheer    
Bittere Brunnen 
Penguin, 704 S., 30,– €,
ISBN 978-3-328-60208-8

4) Fragwürdige Förderpolitik

Naturschutz versus Mensch: Simone Schlindwein, „taz“-Korrespondentin für Zentralafrika, hat jahrelang im Kongo und in Uganda recherchiert und schwere Menschenrechtsverletzungen an Indigenen und Bauern im Namen des Naturschutzes aufgedeckt. Die Jury würdigt die umfassenden Recherchen der 42-Jährigen, die eine teils fragwürdige Förderpolitik westlicher Staaten offenbaren. 

Simone Schlindwein
Der grüne Krieg 
Ch. Links, 256 S., 20,– €,
ISBN 978-3-96289-188-6

5) Schwarz-Weiß

Der Vorwurf saß: Birgit Weyhe, vielfach ausgezeichnete Künstlerin, Illustratorin und Autorin von Graphic Novels, wird der „kulturellen Aneignung“ bezichtigt: Die privilegierte Weiße erzählt von schwarzen Menschen. Mit der Germanistin Priscilla Layne stürzt sie sich in die grafische Biografie einer Afroamerikanerin zwischen allen Stühlen und mitten hinein in die aktuelle Identitätsdebatte. 

Birgit Weyhe (Text und Zeichnung)
Rude Girl 
Avant, 312 S., 26,– €,
ISBN 978-3-96445-068-5 

ÜBERSETZUNG

Die Arbeit geschieht im ­Verborgenen – und erschließt dabei Weltliteratur. Der Preis der Leipziger Buchmesse rückt deshalb Übersetzungen ins Rampenlicht, die Ton und Gehalt eines Werks auch in ­deutscher Sprache treffen.

1) Pralle Sprache 

Noass fährt zur See, um reich zu werden. Lautmalerisch, mit prallem Wortschatz lässt Nicole Nau die gut 100-jährige, bewegte lettische Familiensaga in Deutsch erleben. Die Sprache, die die Professorin für Allgemeine Sprachwissenschaft und Lettische Philologie dem fiktiven Erzähler in den Mund legt, hat die Jury begeistert: „… mal derb, mal zart, stets aber ungeheuer fleischlich.“  

Zigmunds Skujins
Das Bett mit dem goldenen Bein
Mare, 608 S., 48,– €,
ISBN 978-3-86648-658-4

2) Die Magie entfalten

Lyrik zu übersetzen, ist eine Herausforderung. Die preisgekrönte Lyrikerin Brigitte Oleschinski hat sich dazu mit Osman Yousufi zusammengetan, der für das Projekt „Weiter Schreiben“ arabische Texte übersetzt. Ihre nachgedichtete, deutsche Version der magischen Sprachbilder von Lina Atfah öffnet laut Jury „das Tor zu ihrer besonderen Art der Wahrnehmung zwischen den Kulturen“.

Lina Atfah
Grabtuch aus Schmetterlingen
Pendragon, 168 S., 22,– €,
ISBN 978-3-86532-808-3

3) Mit allen Registern

Antje Rávik Strubel hat als Schriftstellerin schon diverse Preise erhalten – unter anderem den Deutschen Buchpreis 2021. Als Übersetzerin von Monika Fagerholms gesellschafts- und medienkritischem Roman musste sie rasanten Tempowechseln folgen und alle Sprachregister von Zorn, Punk und Gewalt ziehen, befindet die Jury, und sie habe die Stärke des preisgekrönten schwedischen Romans gewahrt.

Monika Fagerholm
Wer hat Bambi getötet?
Residenz, 256 S., 25,– €,
ISBN 978-3-7017-1759-0

4) Sprache des Lernens 

Übersetzungen verlangen Empathie: Johanna Schwering musste sich sprachlich in die lernbehinderte Yuna hineindenken, die sich aus ihrer „Minderbemitteltheit“, wie sie es nennt, schreibend befreit. Der argentinische Roman erfordert eine kongeniale Übersetzung, urteilt die Jury: „Weil er die Aufklärung in der sprachlichen Entwicklung der Erzählerin bis in die Kommasetzung hinein konkret vorführt.“

Aurora Venturini
Die Cousinen
dtv, 192 S., 23,- €,
ISBN 978-3-423-44619-8

5) Kameruns Klangfarbe

Wieder ein Roman von Max Lobe, den Katharina Triebner-Cabald gekonnt aus dem Französischen übersetzt. Laut Jury trifft sie den Ton einer alten Kamerunerin, die vom Unabhängigkeitskampf erzählt: „Für die melodiöse und humorvolle Oralität der Stimme von Mâ Maliga und die pointierten Beobachtungen des Ich-Erzählers“ habe Triebner-Cabald „überzeugende deutsche Entsprechungen gefunden“.

Max Lobe
Vertraulichkeiten
Akono, 268 S., 20,– €,
ISBN 978-3-949554-07-0