Karl-Markus Gauß ist um den Job des Dankredners an diesem Abend nicht zu beneiden. Schließlich tritt er in Zeiten vor sein Publikum, da praktisch jeder Tag den Redenentwurf des Vortags zunichtemacht. „Kein Prophet, auch keiner, der auf den heutigen Namen Experte hört, hat vor einigen Wochen vorausgesehen, was sich doch, wie wir heute einräumen, seit Jahren angekündigt hat.“ Paukenschlag Nummer eins, aus heutiger Sicht schon fast ein Luxus-Problem: Die Nachricht von der Buchmesse-Absage – für Gauß ausgelöst vor allem durch die Absage der großen Konzerne. Während die Erregungskurve in der Branche seit jener Februar-Woche längst wieder auf Durchschnitts-Level gefallen ist, Groß und Klein, Ost und West fest entschlossen sind, sich lieb zu haben und auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer in der Nikolaikirche – zusammen mit Grüßen der absenten Kulturstaatsministerin Claudia Roth – das Mantra überbringt, dass Bundesregierung und Freistaat „zu dieser Buchmesse stehen“ (und es schon Ende März zum angekündigten „Zukunftsgespräch“ komme) ... Während all diesem bohrt der Preisträger noch einmal tief in der schon in Abheilung begriffenen Wunde: „Wer es der Buchhaltung, so wichtig sie ist, überlässt, über Bücher, Buchmessen, Feste der Literatur und derer, die ihr Leben mit ihr verbunden haben, zu entscheiden, der wird eines Tages jenem Produkt den gesellschaftlichen Wert genommen haben, mit dem er doch seine besten Geschäfte gemacht hat.“
Inzwischen leben wir in einer anderen Welt. Gauß, ein trittsicherer Wanderer mit festem Schuhwerk, geißelt Putins Angriffskrieg nicht zuletzt als „militärische Sonderoperation“ gegen die Sprache selbst, mit dem Ziel, „aus der Lüge eine staatsbürgerliche Pflicht zu machen“. Er macht jedoch ebenso keinen Hehl daraus, das er die Forderung der wichtigsten ukrainischen Literatur-Institutionen, alle verständliche Verzweiflung und alle Wut eingerechnet, zum Verbreitungs-Stop jedweder russischer Literatur für unannehmbar hält: „Würde die literarische Welt vor 80, 90 Jahren diese Forderungen befolgt haben, dann hätten die entschiedenen Gegner des Nazismus ihre Manuskripte für die Schublade schreiben müssen, von Thomas Mann zu Anna Seghers, von Joseph Roth zu Else Lasker Schüler, von Stefan Zweig zu Irmgard Keun, von Günter Anders zu Theodor W. Adorno.“
Karl-Markus Gauß entlässt das Publikum auf harten Kirchenbänken immerhin mit der Hoffnung auf Verständigung - zumindest zwischen denen, „die auf der einen Seite aufbegehren, um keine Täter zu werden, und denen, die auf der anderen Seite nicht Opfer bleiben wollen“. Und mit dem beinahe utopischen Bild von einer Leipziger Buchmesse 2023. Auf der „russische Autorinnen, die nicht trauern, weil ihr Despot den Krieg verloren hat, und ukrainische Autoren, die nicht jubeln, weil Russland selbst aus der Gemeinschaft der zivilisierten Nationen verstoßen wurde, mit uns – über Europa reden.“
Hier können Sie die Dankesrede von Karl-Markus Gauß nachlesen!
Text: Nils Kahlefendt