Nachdem ich meinen Hund bei Freunden in Hamburg lassen musste, flog ich im August 2008 wie geplant nach Tbilissi. Ich verbrachte faule, hitzeermattete Tage in verschiedenen Sommerhäusern im Tbilisser Umland. An jenem Abend übernachtete ich bei meiner Kusine, mit der ich aufgewachsen bin. Sie ist nur ein Jahr älter und hatte damals bereits zwei Kinder, einen Fünfjährigen und eine Einjährige. Der Fünfjährige weckte mich an jenem Morgen, kam in mein Bett gekrochen und sagte, während er mit einem kleinen Auto über meine Arme fuhr, dass ich aufwachen solle, wir hätten Krieg. Natürlich ignorierte ich seine Aufforderung und schob diese verwirrende Bemerkung auf seinen Spieleifer. Aber Stimmwirrwarr und ein übertrieben laut aufgedrehter Fernseher ließen mich stutzig werden. Ich setzte mich auf und sah das Kind irritiert an. Es schien von einer merkwürdigen Euphorie erfasst, und so erhob ich mich langsam und wankte schlaftrunken ins Wohnzimmer, wo ich die gesamte Familie vor dem Fernseher versammelt antraf.
Vom Bildschirm stürzten vollkommen wirre Bilder von irgendwelchen Panzern, Militärs und LKWs auf mich ein, die ich nicht einordnen konnte. Ich sah in die Gesichter jedes Einzelnen meiner Familie, doch allesamt ignorierten sie mich und verfolgten stattdessen wie verzaubert diese unlogischen Bilder.
– Was ist los?, fragte ich endlich und setzte mich auf die Sofalehne. Meine Kusine sah mich an und begann zu lachen. Ein hysterisches Lachen.
– Die Russen marschieren ein. Es ist Krieg, sagte sie und drückte ihre kleine Tochter an die Brust. Ich musste auch lachen. Es war ein unfreiwilliges Lachen. Dieser Gedanke schien zu absurd, er wollte sich mir einfach nicht erschließen, und selbst wenn ich ihn hätte irgendwie begreifen können, welche Reaktion wäre bitte angemessen angesichts der Nachricht, dass man sich im Krieg befindet? Von heute auf morgen. Vollkommen unangekündigt. Am Tag der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele in Peking. An dem alle Urlaub machen, sich der Sonne hingeben, an dem irgendein neuer Krieg das Letzte ist, von dem man etwas wissen will. Wir doch genauso, dachte ich mir. Wäre es jetzt woanders passiert und nicht hier, wären wir bloß Zuschauer eines fremden Leides vor dieser idiotischen Glotze, hätten wir doch auch unsere Augen abgewendet, etwas betroffen die Köpfe geschüttelt, etwas Empathisches gemurmelt, und dann wären wir ebenso wieder zu unserem Alltag zurückgekehrt. Nur ging das auf einmal nicht mehr. Diese Nachrichten und alles, was wir da zu hören bekamen, drehten sich um uns. Wir waren plötzlich diese fremden Statistiken und diese Zahlen.
Bilder schossen mir durch den Kopf, wie in einem makabren Kaleidoskop wechselten sich all die Szenen irgendwelcher Kriegsszenarien mit den Fernsehaufnahmen ab: aus Afghanistan, aus dem Irak, aus dem Jugoslawienkrieg und auch unsere eigenen, ureigenen aus den 1990er-Jahren waren plötzlich wieder präsent. Damals war ich bloß ein Kind gewesen, als es im Zuge der Unabhängigkeitsbestrebungen Georgiens, im Post-Perestroika-Chaos und dem ewigen, elenden Ablösungsprozess von der Sowjetunion und somit vom Kreml zu den Kriegen in Abchasien und Ossetien kam. Damals begriff ich nicht, was es hieß, dass sich ganze Hotels in Tbilissi mit Flüchtlingen aus dem eigenen Land füllten, was es hieß, dass einige Freunde meiner Eltern nach Abchasien fuhren und nicht wiederkamen oder was es hieß, dass die, die wiederkamen, glasige Augen hatten und später nicht selten an einer Überdosis starben. Ich begriff damals nicht, was diese fünf Buchstaben bedeuteten: Krieg.
Und so danke ich jedem einzelnen Menschen in der Ukraine und andernorts, der gegen die Rückkehr in die Vergangenheit kämpft, aus der wir scheinbar so wenig lernen.
Und bitte lasst uns diese Menschen nicht vergessen, lasst auch uns kämpfen, mit den Mitteln, die wir haben, lasst uns diesen Krieg nicht zu einem Hintergrundrauschen werden lassen. Denn diese Menschen brauchen unsere Hilfe. Und als kleiner Tipp an manche Kulturschaffende hierzulande: Es lässt sich leicht sinnieren über Frieden und Pazifismus, wenn man in einer schönen Altbauwohnung mit einem noblen Rotweinglas in der Hand sitzt. Aber wenn Bomben zu fallen beginnen, und das sage ich aus eigener Erfahrung, kommen leicht, sagen wir mal, archaischere Gefühle zum Vorschein, die sich schlecht mit philosophischen Diskussionen über die Sinnlosigkeit von Gewalt und den Nutzen von Milchpulver vereinbaren lassen.
Übrigens: Als ich 2008 wieder nach Deutschland zurückkam und meinen Hund wohlauf vorfand, da sagte ich zu ihm:
– Ach weißt du was, es war eh das Beste für dich, dass du hierbleiben musstest. So bist du jetzt nicht auch noch traumatisiert, und ich muss mit dir nicht zu einem Tiertherapeuten, das wäre mir jetzt echt zu viel, weißt du?!
Er sah mich freudig an und wedelte mit dem Schwanz.
– Ach was, Therapie. Pflanz dich hin und schreib darüber, auch wenn du keine Worte dafür hast, schienen mir seine Augen zu sagen.
Ich habe auf ihn gehört. Denn die Worte sind die einzigen Krücken, die ich habe, auf die ich mich stützen und das Gehen immer wieder neu lernen kann.
Vielen Dank!