Aus der Zwischenwelt
Judith Hermann lotet gekonnt das Spannungsfeld zwischen Fiktion und Realität aus – und gewährt dabei Einblicke in den Entstehungsprozess ihres siebten, bisher persönlichsten Buchs.
Judith Hermann lotet gekonnt das Spannungsfeld zwischen Fiktion und Realität aus – und gewährt dabei Einblicke in den Entstehungsprozess ihres siebten, bisher persönlichsten Buchs.
Nie wird in diesem Buch klar, ob beziehungsweise wo eine Grenze zwischen der Autorin und ihrer Ich-Erzählerin Judith verläuft. In „Wir hätten uns alles gesagt“ bereitet Judith Hermann die perfekte Bühne für eine autobiografische Erzählung, die sie dann aber lediglich wie zufällig streift. Stattdessen schreibt sie jene Geschichten, die sich um die Protagonistin herum ereignet haben. Oder haben könnten. Denn jede von ihnen umkreist die Frage, was Dichtung ist und was Realität, was Traum und was Erinnerung. „Während ich das schreibe [...], bin ich gar nicht sicher, ob das tatsächlich stattgefunden hat“, räumt die Erzählerin wiederholt ein. Am Ende der literarischen Gedankenreise ist „nichts mehr richtig [...], aber alles wahr“.
In der Isolation der Pandemie bricht Judith zu einem Streifzug durch lose verknüpfte Episoden ihres Lebens auf. Immer tiefer leuchtet sie in die Kammern und Abgründe einer verstörenden Kindheit voller emotional unzuverlässiger Erwachsener hinein. Kein Staubkorn im Berlin der 1970er Jahre entgeht einer exakten Beschreibung. Der Geruch der gespensterhaften Großmutter existiert gleichwertig neben der Temperatur im Sommerhaus am Meer und der Anziehungskraft der Jugendfreundin. Es ist die Bilanz eines halben Lebens, die uns auf eine Suche mitnimmt: danach, was Menschen trennt oder beieinanderhält. Es ist keine Geschichte vom An-, sondern vom Entkommen, und sie stimmt trotz aller Melancholie optimistisch: Je mehr sie sich dem Heute nähert, desto heller wird es. • KF