Bess Bright lebt in bitterer Armut: Das Geld, das sie und ihr Vater mit dem Verkauf von Krabben auf dem Markt verdienen, reicht kaum zum Leben, und als Bess nach einer flüchtigen Affäre mit einem Kaufmann schwanger wird, beschließt sie schweren Herzens, ihre Tochter Clara ins Waisenhaus zu geben. Sechs Jahre später hat sie genug Geld gespart, um Clara wieder zu sich zu nehmen – aber im Waisenhaus erfährt sie, dass die Kleine vor langer Zeit abgeholt wurde. Für Bess bricht eine Welt zusammen: „Ich hatte befürchtet, dass sie nicht mehr lebte. Doch der Gedanke, dass sie nun überall statt nirgends sein könnte, war noch viel quälender.“ Nun hat Bess bloß noch ein Ziel: Sie muss ihre Tochter finden!
Plastische Schilderungen
Kenntnisreich und mit Liebe zum Detail entführt Stacey Halls ihre Leser ins London des 18. Jahrhunderts und verzichtet dabei auf jegliche Romantisierung. „Das Leben damals“, so Halls, „war für die meisten Menschen extrem entbehrungsreich. London war kein angenehmer Ort, vor allem nicht für Frauen.“ Bei Halls’ plastischen Schilderungen wird das Hafenviertel lebendig, mit windschiefen Marktständen und den Rufen der Fischhändler – Ergebnis einer gründlichen Recherche: „Ich wollte wissen, wie die Unterprivilegierten gelebt haben, die Nicht-Weißen, die Tagelöhner. Ich wollte wissen, wie die Menschen in den Kneipen und auf den Straßen geredet haben.“
Bess bricht aus diesem Leben aus, als sie ihre Tochter im Haushalt der vornehmen Kaufmannswitwe Alexandra findet, und sie geht ein hohes Risiko ein, um Clara nahe zu kommen. Geschickt erzählt Stacey Halls vom Aufeinanderprallen zweier Gesellschaftsschichten. „Ich schreibe über willensstarke Frauen“, sagt sie, „die ihre Kraft aus sich selbst heraus schöpfen.“ Bess und Alexandra sind solche Frauen, die beide um die kleine Clara kämpfen und am Ende erkennen, dass sie vieles gemeinsam haben. Stacey Halls spürt ihren Protagonistinnen mit viel Feingefühl nach. „Mir geht es darum, meinen Figuren Tiefe zu geben“, meint sie: „Ich wünsche mir, dass meine Leser mit den Charakteren mitgehen.“ Ein Wunsch, der bei Halls’ Roman aufs Allerschönste erfüllt wird.
Irene Binal