Ian McEwan: LEKTIONEN

Das Leben, kein Traum

13. Oktober 2022

Ein Junge wird von seiner Klavierlehrerin verführt und diese Erfahrung prägt ihn nachhaltig: Ian McEwan erzählt vom Gestern und Heute, von der Macht der Erinnerungen und von den Lektionen des Lebens.

Es beginnt mit einer Klavierstunde. Der junge Roland soll Bachs Erstes Präludium spielen, aber er macht einen Fehler und die Klavierlehrerin kneift ihn in den Oberschenkel: „Ihre Hand fühlte sich kühl an, als sie unter seinen Shorts bis dahin hochwanderte, wo der Gummizug seiner Unterhose die Haut einschnürte.“ Noch Jahre später quält Roland Baines die Erinnerung an diese Klavierstunden – und an das, was ihnen folgte. Denn Miriam Cornell, die Klavierlehrerin, lässt ihren jungen Schützling nicht einfach gehen: Sie wird ihn später, als er gerade mal 14 Jahre alt ist, verführen, ihn ganz für sich beanspruchen, will ihn sogar heiraten. Es ist die Geschichte eines Missbrauchs, der Rolands ganzes Leben beeinflusst und möglicherweise daran schuld ist, dass sein Traum, Dichter zu werden, an seiner Ziel­losigkeit zerschellt und er schließlich als Barpianist in einem zweitklassigen Londoner Hotel landet.

„Rolands Leben hätte vielleicht meines sein können, wenn ich früh von der Schule abgegangen wäre und mich nur hätte treiben lassen.“

Ian McEwan

Diese Erfahrung aus Rolands Jugend steht im Zentrum von Ian McEwans neuem Roman „Lektionen“, der von den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis ins Heute führt. Als Sohn eines britischen Captains verbringt Roland seine frühe Kindheit in Libyen, geht mit seinen Eltern nach England und wird von seinem Vater, der gern auf der Mundharmonika Schlager zum Besten gibt, aber viel lieber Klavier spielen würde, zum Klavierunterricht geschickt. Ähnlichkeiten mit McEwans Biografie sind nicht zufällig. Auch er verbrachte als Sohn eines Majors Teile seiner Kindheit in Libyen und er hat Roland Baines einiges von sich mitgegeben – schulische Erlebnisse, Eindrücke, Gedanken und Ansichten: „Rolands Leben hätte vielleicht meines sein können, wenn ich früh von der Schule abgegangen wäre und mich nur hätte treiben lassen, wenn ich kein Romanautor geworden wäre.“

Und so ist „Lektionen“ in gewisser Weise auch eine „Was wäre, wenn“-Geschichte: Akribisch und mit viel Feingefühl erzählt McEwan von einem Mann, der seine hochfliegenden Pläne nie ganz umsetzen kann. Als Dichter bleibt Roland der große Erfolg versagt, und auch im Privaten scheitert er, als seine Frau Alissa ihn und ihren Sohn Lawrence verlässt und in ihre Heimat Deutschland zurückgeht, wo sie als Schriftstellerin berühmt wird. Roland kümmert sich um Lawrence und fragt sich, was er falsch gemacht hat: „Er wusste nicht, welchen minderwertigen Teil seiner selbst er anklagen sollte, also musste er in Gänze schuld sein.“ 

Ian McEwan
Lektionen

Übersetzt von Bernhard Robben. 
Diogenes, 720 S., 32,– €, 
ISBN 978-3-257-07213-6

Schuldgefühle und Reue sind für Roland Baines Teil seines Lebens. Eines Lebens, das von den großen Umbrüchen des späten 20. Jahrhunderts geprägt wird. Die Kubakrise in den 60ern führt dazu, dass Roland in Miriam Cornells Bett landet, nach der Tschernobyl-Katastrophe in den 80ern beginnt er, fast panisch Vorkehrungen für sich und Lawrence zu treffen. Er erlebt den Fall der Berliner Mauer mit und muss erkennen, dass die Euphorie nicht lange anhält: „Er hatte das Jahr 1989 für ein Portal, einen Torbogen gehalten, eine weite Öffnung hin zur Zukunft, durch die alles strömen würde. Dabei war es nur ein Höhepunkt, ein kurzer Ausschlag nach oben gewesen.“ Immer wieder grübelt Roland über die Zufälle und Ereignisse, die sein Leben beeinflusst haben. Eine Frage, die auch Ian McEwan bewegt: „Je älter ich werde, ­desto mehr fühle ich, wie die Vergangenheit sich bemerkbar macht. In meiner Jugend hätte ich diese Macht, die die Vergangenheit über mich hat, nicht akzeptiert.“

Diesem Drängen der Vergangenheit gibt er in seinem Roman nach, einem reichhaltigen Roman, in dem es um Hoffnung geht und um das Scheitern, um Schuldgefühle und die Frage nach dem Warum. Roland Baines ist ein richtungsloser Held, der vom Zufall mal hierhin, mal dorthin geweht wird, ein Mann, der sich gern als Freigeist sieht, aber dahinter die eigene Entscheidungsschwäche verbirgt. In einer klaren, feinsinnigen Prosa verfolgt McEwan den Weg seines Protagonisten durch die Jahrzehnte, springt dabei zwischen den Jahren hin und her. „Die Kapitel sind recht lang“, sagt er selbst, „damit die Leser Zeit und Raum haben, um sich in der jeweils erzählten Zeitspanne zurechtzufinden. Am Ende sollte man einen Eindruck davon haben, wie sich ein ganzes Leben in der Retrospektive anfühlt.“

Dieses Gefühl vermittelt McEwan tatsächlich auf bestrickende Art und Weise, wenn er von Schuld erzählt und von Erlösung, von Erinnerung und der Frage, wie sie funktioniert, und nicht zuletzt von den „Lektionen“ des Titels: Lektionen, die das Leben und die Historie erteilen – und die, wie Roland Baines an einer Stelle beklagt, nur allzu schnell wieder vergessen werden. 

Irene Binal

Interview mit Ian McEwan

„Ich habe Fiktion und Erinnerung verflochten“

In „Lektionen“ folgen Sie Ihrem Protagonisten Roland Baines durch viele Jahrzehnte. Wie kam es zu diesem Buch?
Ich wollte ein Leben nachzeichnen, um zu erkennen, wie man die Verwüstungen der Zeit übersteht. An einem gewissen Punkt denken wir alle über unsere Vergangenheit nach, wir fragen uns, ob wir Erfolg hatten oder gescheitert sind und welche Lektionen – wenn überhaupt – wir gelernt haben. Außerdem wollte ich untersuchen, wie globale Ereignisse das Private durchdringen.

Wie viel von Ihnen steckt in Roland Baines?
Einerseits ist er mein Alter Ego: Ich habe ihm meine Kindheit mitgegeben, meine Eltern, meine schulischen Erlebnisse und meine Erfahrung, als ich im November 1989 die ­Berliner Mauer fallen sah. Aber andererseits ist vieles im Roman ausgedacht. Ich habe Fiktion und Erinnerung verflochten. In den späteren Passagen des Buchs gab ich Roland einige meiner Gedanken über Politik, über Beziehungen und den Lauf der Zeit mit. Und er wurde das Sprachrohr für meine Vorahnungen von der Zukunft. 

Was war bei der Arbeit für Sie am schwierigsten?
Der Anfang war schwierig. Ich schrieb einige Passagen, aber ich war mit der Prosa nicht glücklich. Sie war zu locker, zu sehr wie ein Bewusstseinsstrom. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass ich etwas weniger Subjektives benötigte, etwas Analytischeres, auch wenn der Fokus weiterhin auf der Hauptfigur liegen sollte. Ich wechselte von der ersten in die dritte Person und eliminierte den impressionistischen Fluss der Sätze. Danach ging es ganz leicht. 

Welche Lektionen könnten die Leser:innen aus Ihrem Roman mitnehmen?
Sie werden wahrscheinlich erkennen, dass viele Probleme im Leben nie gelöst werden. Entweder wir vergessen, was uns beunruhigt hat, oder wir nehmen es als Teil ­unseres „Gepäcks“ mit uns mit. Die Lektion in „Lektionen“ ist, dass wir nichts anderes tun können, als unser Leben aktiv zu ­reflektieren und dabei aufrichtig zu bleiben.

BIN

Zum Autor

Ian McEwan, geboren 1948, studierte in Brighton englische und französische Philologie. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg „Abbitte“ ist jeder seiner Romane ein Bestseller, viele wurden verfilmt. Er ist verheiratet mit der Schriftstellerin Annalena McAfee, mit der er in London lebt.