Lukas Rietzschel: RAUMFAHRER

„Das Schweigen sichtbar machen“

27. August 2021

Nach seinem gefeierten Debüt „Mit der Faust in die Welt schlagen“ erzählt Lukas Rietzschel in „Raumfahrer“ abermals präzise und schnörkellos von ostdeutschen Befindlichkeiten, von der Last des Unbewältigten und von der Fremdheit im eigenen Leben.

Jan ist ein Wendekind, geboren im Jahr der friedlichen Revolution in Ostsachsen. Doch von Aufbruch keine Spur, stattdessen prägen die traurigen Hinterlassenschaften des Sozialismus und die ins Leere gelaufenen Versprechungen der neuen Zeit den tristen Alltag. Über die DDR weiß der Krankenpfleger nicht viel, aber durch einen seltsamen Fremden wird er auf die dunkle Vergangenheit seiner Familie gestoßen: Ist seine Mutter zur Alkoholikerin geworden, weil sie als junge Frau Schuld auf sich geladen hat? Und was verschweigt sein Vater?  

Sie sind in Ostsachsen aufgewachsen und leben in Görlitz. Hat sich Ihr Blick auf die Menschen in Ihrer Umgebung und auf deren Probleme durch Ihre Romane verändert? Mir wird manchmal vorgeworfen, ein wenig pessimistisch auf meine 
Region zu schauen, die Stimmung in meinen Texten wird als eher melancholisch wahrgenommen. Sie dürfen sich davon nicht in die Irre leiten lassen, es gibt natürlich auch glückliche Menschen in Sachsen. 

Schreiben Sie an einer Art Ethnologie Ostdeutschlands? Ich möchte die Nachwendejahre greifbar machen, irgendwie. Ich suche nach Formen, Figuren, Bildern, um all die Brüche der letzten Jahre zu illustrieren. Das Ganze für den sogenannten Osten zu versuchen, wäre größenwahnsinnig. Ich schaffe es ja nicht einmal für die ostsächsische Lausitz. 

Sie erzählen von Menschen, die gefangen sind in ihrer je eigenen Geschichte. Warum finden sie keine Wege, sich zu verständigen? Das ist eine gute Frage und leider habe ich darauf keine Antwort. Mir liegt viel daran, dieses Schweigen oder diese Gefangenheit, wie Sie es nennen, überhaupt erst einmal sichtbar zu machen. Mein Ansatz ist, das Schweigen zu erzählen und darüber ins Gespräch zu kommen, anstatt die Stille zu erklären.  

Eine der Figuren des Romans ist der Maler Georg Baselitz. Wie kommt er in Ihr Buch? Ich bin in Kamenz aufgewachsen, Baselitz lebte im Nachbardorf, bevor er kurz vor dem Mauerbau in den ­Westen zog. Seine Familie blieb im Osten, darunter auch sein Bruder, Günter Kern, der auf mich zukam und mir Akten, Briefe und auch Stasidokumente zeigte. Nachdem ich mich intensiver mit der Kunst von Baselitz auseinandergesetzt hatte, reifte in mir der Entschluss, diesen Roman zu schreiben, aber eben nicht als Brüdergeschichte und als chronologische Abfolge von Ereignissen. Ich wollte die Gegenwart einbinden, eine weitere Familiengeschichte, wollte die Erzählform brechen, die zeitliche Abfolge, und herausgekommen ist „Raumfahrer“. Ich bin sehr stolz darauf.
  
Welches Verhältnis haben Sie zu seinen Bildern? Als ich anfing, mich intensiver mit Baselitz auseinanderzusetzen, ­entdeckte ich eine Landschaft, die mir sehr vertraut war. Und ich stieß auf die Heldenbilder, die mir den Rahmen für den Roman geben sollten. Baselitz beschäftigte sich am Anfang seines Schaffens ausführlich mit der Nachkriegszeit. Was er malte und was er darüber sagte, erinnerte mich an Momente und Situationen, die ich mit der Nachwendezeit assoziierte. Das war die Geburtsstunde meiner Geschichte. Für mich ist dieser Roman der Versuch, die Nachkriegszeit mit der Nachwendezeit zu verknüpfen – in der Form, wie daran und darüber gedacht wird und wurde. 

Holger Heimann

„Sie wissen, wer mein Vater war, oder?“, sagte der Alte. 
„Nein.“ 
„Der Bruder von Georg Baselitz.“ 

Aus: „Raumfahrer“

Über den Autor

Lukas Rietzschel, geboren 1994 in Räckelwitz in Ostsachsen, wurde für seinen Debütroman mit dem Gellert-Preis ausgezeichnet. Am Schauspiel Leipzig wurde im Frühjahr Rietzschels erster dramatischer Text, „Widerstand“, uraufgeführt. Der Autor lebt in Görlitz und wird 2022 Stipendiat der Villa Aurora Los Angeles sein.

Lukas Rietzschel
Raumfahrer

dtv,  288 S., 22,– €,
ISBN 978-3-423-28295-6