Der verlorene Wald
Andreas Wagners Debütroman „Jahresringe“ ist nicht bloß eine wunderbar erzählte Familiengeschichte, sondern auch eine Liebeserklärung an einen verschwundenen Märchenwald.
Andreas Wagners Debütroman „Jahresringe“ ist nicht bloß eine wunderbar erzählte Familiengeschichte, sondern auch eine Liebeserklärung an einen verschwundenen Märchenwald.
Leonore Klimkeit ist 13 Jahre alt, als sie 1946 als Flüchtling aus Ostpreußen im Dorf Lich-Steinstraß am Rand des Bürgewalds auftaucht und beim Moppenbäcker Hannes Zuflucht findet. Ihr einziger Freund ist Arnold Harbinger, ein Außenseiter wie sie, und der Wald wird ihre eigentliche Heimat, der Grimm’sche Märchenwald, in dem sie sogar schweben kann. Viele Jahre später jedoch – Leonore hat die Bäckerei übernommen und einen Sohn namens Paul bekommen – soll der Wald abgeholzt werden, um einem Braunkohletagebau Platz zu machen. Die Bewohner des Dorfs müssen in eine Neubausiedlung am Rand der Kreisstadt Jülich umziehen. Aber der Wald lässt Leonores Familie nicht los: Während ihr Enkel Jan einen Schaufelbagger des Braunkohlekonzerns steuert, schließt sich seine Schwester Sarah den Aktivisten an, die im Rest des Bürgewalds, dem Hambacher Forst, gegen weitere Rodungen kämpfen – ein Konflikt, an dem die Familie zu zerbrechen droht.
All das erzählt Wagner in einer sanften, klugen Prosa mit märchenhaften Elementen: Im Bürgewald können sich Sehnsüchte erfüllen, und Leonores Freund Arnold erinnert nicht umsonst an den Heiligen Arnoldus, den Schutzpatron des Waldes, der ihn nicht retten kann. Wagners Debüt ist weit mehr als nur ein Familienroman: ein zauberhaftes Buch, in dem es um Heimat und deren Zerstörung geht – und um einen verlorenen Wald, der nur mehr in Geschichten fortbesteht.
Irene Binal
Andreas Wagner, 1978 in Neuss geboren, befasst sich seit seiner Jugend mit der Zerstörung von Dörfern durch den Braunkohleabbau. Er ist tätig als Schulsozialarbeiter und lebt mit seiner Familie in Köln.