BELLETRISTIK

Dichtung und Wahrheit

23. April 2023

Eine todkranke Zürcher Gesellschafts­größe, ein junger Anwalt und eine verschwundene Verlobte: In Martin Suters Roman „Melody“ gibt es mehr Versionen der Wahrheit als Hauptfiguren.

Es ist ein unverschämt gut bezahlter Job als Nachlassverwalter, der den arbeitslosen Jura-Absolventen Tom Elmer in die Villa von Alt-Nationalrat Dr. Stotz am Zürichberg führt. Auf dem Anwesen wird teuer und viel getrunken, es riecht „nach Tabakpfeife, Kaffee und Vergangenem“, das Auffälligste aber ist die Omnipräsenz einer auf ungeklärte Weise verschwundenen Frau. Die ehemalige Verlobte des Hausherrn durchwirkt auf Gemälden und in Legenden das Leben aller, die in der Villa leben – bald auch das von Tom. Denn was als harmlos-langweilige Tätigkeit beginnt, dringt immer raumgreifender in sein Leben ein.
Sein Arbeitgeber erweist sich dabei als Meister der Manipulation, der weit über die eigene Reputation hinaus nichts dem Zufall überlässt und vielsagend bekennt, „die Fiktion mehr als die Wahrheit“ zu lieben. Stotz macht seinen jungen Angestellten zum Mitwisser seiner tragischen großen Liebe, die er auch nach über 40 Jahren nicht loslassen kann. Beide Männer, so scheint es, suchen gemeinsam nach der Verschwundenen, bis Martin Suter die Karten seiner Protagonisten in immer kürzeren Abständen neu zu verteilen beginnt. Wie bei den Puppen einer Matroschka stellt sich jede neue Erkenntnis lediglich als Verpackung einer weiteren, gänzlich anderen heraus. Am Ende des rasanten Enthüllungsmarathons bleiben lediglich zwei Fragen ohne Antwort: Wie wahr ist die Geschichte eines Lebens? Und wie viel Verlass ist auf ­ihren Erzähler? • Katrin Freiburghaus

Martin Suter
Melody

Diogenes, 336 S., 26,– €,
ISBN 978-3-257-07234-1

Über den Autor

Martin Suter, geboren 1948, hat bei Diogenes zahlreiche Romane veröffentlicht, darunter eine Krimi­serie rund um den Protagonisten Allmen. Weltweit haben sich seine Bücher über zehn Millionen Mal verkauft. Suter lebt mit seiner Familie in Zürich.