War das eine Art Initialzündung für Ihr Buch?
Nicht in dem Sinne, dass ich sofort dazu schreiben musste. Aber es ruhte in mir, als Staunen. Als ich dann die Erinnerungen der Mutter las, wurde mir die Bedeutung der Herkunft bewusst. Auch die Traumatisierung, die das kleine Mädchen erlitten hatte, habe ich da erst verstanden. Das legte sich auf die Erinnerung der Verfilmung über die Manns vor rund 20 Jahren, in der Elisabeth Mann so eine fantastische Figur abgegeben hat. Die letzte Überlebende, so lebenszugewandt, so fest, so ganz anders als die anderen Kinder. Irgendwann dachte ich: Meer und Meer und in der Mitte auch das Meer. Das muss doch irgendwie zusammenhängen.
Hatten Sie Angst, sich diesem viel porträtierten deutschen Großschriftsteller zu nähern?
In dieser Form nicht. Mir hat das thematisch eingrenzende Meer sehr geholfen, weil der riesige Kosmos seines Schaffens dadurch überschaubarer und erlebbarer wurde. Thomas Mann hat ja selbst gesagt, auf jeder Seite seines Werkes schimmert das Meer durch. Das ist eine sehr schöne Beschreibung. Und wo es nicht so ganz deutlich schimmerte, habe ich mir erlaubt, einen Bogen drum zu machen.
Wenn es überall durchschimmert, ist die Beziehung von Thomas Mann zum Meer trotzdem noch eine unerzählte Geschichte?
In dieser Form ja. Was mir wichtig ist: dass man mit diesem Motiv das Wesentliche über Thomas Mann erzählen kann. Der Urgrund seines Lebens fängt mit seiner Mutter an, ihrem Trauma, am falschen Ort zu sein; als Konfirmationsspruch bekam sie mit: „Verleugne dich selbst!“ Zugleich ist mir das Fortleben wichtig; was bleibt von Kultur, was bleibt von uns, was bleibt vom Schreiben? Da bin ich glücklich, vieles für mich entdeckt zu haben. Der Bogen, von Julia zu Elisabeth, der scheint mir absolut stimmig.
Eine der nachdrücklichsten Szenen des Buchs ist der Moment, als die Mutter stirbt und dabei in ihre Muttersprache, das Portugiesische, zurückfällt.
Da wird die Unterdrückung ihrer Identität deutlich; sie hat sie sogar vor ihren Kindern verborgen gehalten. Aber sie wirkte in ihr, und in dem Moment, als sie das Leben loslässt, dringt das Unterdrückte an die Oberfläche. Das hat mich sehr erschüttert.
Nach heutigen Maßstäben hat Thomas Mann eine Zuwanderungsgeschichte, aber in der Rezeption als deutscher Schriftsteller spielt sie keine Rolle.
Dabei ist das Leben seiner Mutter eine Art Flüchtlingsgeschichte, seine auch. Wenngleich er ein Geflüchteter mit gesegneten materiellen Mitteln war und so berühmt, dass er sich fast die Länder aussuchen konnte. Aber sein Bild? Deutscher geht’s nicht.
„Ich halte seine Analyse des Verhältnisses der Menschen zur Natur und besonders zum Meer für die tiefgründigste, die mir je begegnet ist.“ Stimmen Sie dem Satz Elisabeths über ihren Vater zu?
Unbedingt. Schöner kann man es nicht sagen. Es gibt den magischen Moment, wo Thomas Mann und Elisabeth im Naturhistorischen Museum in Chicago sind, die Urtiere auf dem Meeresgrund betrachten und er sinngemäß sagt: Wow, das alles liegt meinem Schreiben zugrunde. In diesem Moment begreift er, wie er dieser Urnatur verbunden ist, als Mensch, als Schreibender. Und das spüre ich auch als Leser, diese Verbundenheit. Ich würde sagen, dass er einer der größten Nature-Writer überhaupt ist.
Sie schreiben im Nachwort, Sie seien mit dem Schiff „Elisabeth Mann Borgese“ gefahren, um dem Geist der Namensgeberin oder gar dem von Thomas Mann nachzuspüren. Haben Sie ihn gefunden?
Die Mannschaft sagt Nein, ich sage Ja. Das ist das Schöne an Geistern. So wie ich Elisabeth verstehe, geht es um die Liebe zum Meer und damit zur Natur, sie zu bewahren, und zwar mithilfe der Wissenschaft. Das ist der utopische Lebensauftrag der Elisabeth Mann Borgese gewesen.
Ist Ihr Buch das Werk eines Verehrers?
Das wäre jetzt nicht mein Wort, aber ich sage mal: Ja. Obwohl mir Thomas Mann dafür auch zu lebendig ist und ich mich ihm irgendwie brüderlicher oder sohnhafter zugewandt fühle.
Interview: Marcus Meyer