Volker Weidermann: MANN VOM MEER

Die Liebe eines Lebens

16. Juni 2023

Das Meer durchströmte das Leben von Thomas Mann auf einzigartige Weise und prägte seine Beziehungen wie sein Werk maßgeblich. Diese ­Geschichte erzählt Volker Weidermann meister­haft und mit viel Wärme in seinem biografischen Roman „Mann vom Meer“. Ein Gespräch über die Sehnsüchte des Großschriftstellers. 

Herr Weidermann, Sie haben eine Biografie über Thomas Mann geschrieben, aber das Buch ist auch Ausdruck für eine Art Lebens-, Liebes- und Todesbeziehung ­eines Menschen zum Meer. Wie nah ist Ihnen das Meer?
Es ist mir nah und fern zugleich. Geografisch fern, denn ich bin in Darmstadt geboren und aufgewachsen, habe später in Heidelberg und Berlin gelebt. Aber ich merke, dass das Meer wichtiger für mich wird. Es ist ein Ort, an dem ich mich aufs Wesentliche konzentrieren kann, zur Ruhe komme, Freiheit fühle. Manchmal denke ich, dass es ein Lebensmissverständnis ist, dass ich nicht am Meer geboren wurde und auch nicht dort lebe. 

Hat Thomas Mann zu diesem Gefühl beigetragen?
Vielleicht ist manche Literatur so wirkmächtig. Das Kapitel „Strandspaziergang“ aus dem „Zauberberg“ finde ich zum Beispiel unglaublich anziehend, zum Darinwohnen und so sehnsuchtsstark, dass das vielleicht zutreffend sein könnte. 

Wie wichtig waren fürs Buch Ihre Besuche an den meist identischen Schauplätzen des Lebens und der Romane von Thomas Mann?
Es gibt einen geradezu mythischen Ausgangspunkt für mich, und das ist das brasilianische Paraty, der Ort, an dem seine Mutter aufgewachsen ist. Bei meinem Besuch vor zwölf Jahren war ich wie verzaubert. Ich wusste von diesem Ort, man findet überall Hinweise in Thomas Manns Werk, aber die Schönheit und Harmonie der Natur dort, aber auch die spürbare, maximale Ferne von Lübeck, das war sehr besonders. Dass an diesem exotischen Platz die Mutter des deutschesten Schriftstellers des 20. Jahrhunderts geboren wurde, konnte ich nicht fassen.

Irgendwann dachte ich: Meer und Meer und in der Mitte auch das Meer. Das muss doch irgendwie zusammenhängen.

Volker Weidermann

War das eine Art Initialzündung für Ihr Buch?
Nicht in dem Sinne, dass ich sofort dazu schreiben musste. Aber es ruhte in mir, als Staunen. Als ich dann die Erinnerungen der Mutter las, wurde mir die Bedeutung der Herkunft bewusst. Auch die Traumatisierung, die das kleine Mädchen erlitten hatte, habe ich da erst verstanden. Das legte sich auf die Erinnerung der Verfilmung über die Manns vor rund 20 Jahren, in der Elisabeth Mann so eine fantastische Figur abgegeben hat. Die letzte Überlebende, so lebenszugewandt, so fest, so ganz anders als die anderen Kinder. Irgendwann dachte ich: Meer und Meer und in der Mitte auch das Meer. Das muss doch irgendwie zusammenhängen.

Hatten Sie Angst, sich diesem viel porträtierten deutschen Großschriftsteller zu nähern?
In dieser Form nicht. Mir hat das thematisch eingrenzende Meer sehr geholfen, weil der riesige Kosmos seines Schaffens dadurch überschaubarer und erlebbarer wurde. Thomas Mann hat ja selbst gesagt, auf jeder Seite seines Werkes schimmert das Meer durch. Das ist eine sehr schöne Beschreibung. Und wo es nicht so ganz deutlich schimmerte, habe ich mir erlaubt, einen Bogen drum zu machen. 

Wenn es überall durchschimmert, ist die Beziehung von Thomas Mann zum Meer trotzdem noch eine unerzählte Geschichte?
In dieser Form ja. Was mir wichtig ist: dass man mit diesem Motiv das Wesentliche über Thomas Mann erzählen kann. Der Urgrund seines Lebens fängt mit seiner Mutter an, ihrem Trauma, am falschen Ort zu sein; als Konfirmationsspruch bekam sie mit: „Verleugne dich selbst!“ Zugleich ist mir das Fortleben wichtig; was bleibt von Kultur, was bleibt von uns, was bleibt vom Schreiben? Da bin ich glücklich, vieles für mich entdeckt zu haben. Der Bogen, von Julia zu Elisabeth, der scheint mir absolut stimmig. 

Eine der nachdrücklichsten Szenen des Buchs ist der Moment, als die Mutter stirbt und dabei in ihre ­Muttersprache, das Portugiesische, zurückfällt.
Da wird die Unterdrückung ihrer Identität deutlich; sie hat sie sogar vor ihren Kindern verborgen gehalten. Aber sie wirkte in ihr, und in dem Moment, als sie das Leben loslässt, dringt das Unterdrückte an die Oberfläche. Das hat mich sehr erschüttert.

Nach heutigen Maßstäben hat Thomas Mann eine Zuwanderungsgeschichte, aber in der Rezeption als deutscher Schriftsteller spielt sie keine Rolle.
Dabei ist das Leben seiner Mutter eine Art Flüchtlingsgeschichte, seine auch. Wenngleich er ein Geflüchteter mit gesegneten materiellen Mitteln war und so berühmt, dass er sich fast die Länder aussuchen konnte. Aber sein Bild? Deutscher geht’s nicht. 

„Ich halte seine Analyse des Verhältnisses der Menschen zur Natur und besonders zum Meer für die tiefgründigste, die mir je begegnet ist.“ Stimmen Sie dem Satz Elisabeths über ihren Vater zu?
Unbedingt. Schöner kann man es nicht sagen. Es gibt den magischen Moment, wo Thomas Mann und Elisabeth im Naturhistorischen Museum in Chicago sind, die Urtiere auf dem Meeresgrund betrachten und er sinngemäß sagt: Wow, das alles liegt meinem Schreiben zugrunde. In diesem Moment begreift er, wie er dieser Urnatur verbunden ist, als Mensch, als Schreibender. Und das spüre ich auch als Leser, diese Verbundenheit. Ich würde sagen, dass er einer der größten ­Nature-Writer überhaupt ist. 
  
Sie schreiben im Nachwort, Sie seien mit dem Schiff „Elisabeth Mann Borgese“ gefahren, um dem Geist der Namensgeberin oder gar dem von Thomas Mann nachzuspüren. Haben Sie ihn gefunden?
Die Mannschaft sagt Nein, ich sage Ja. Das ist das Schöne an Geistern. So wie ich Elisabeth verstehe, geht es um die Liebe zum Meer und damit zur Natur, sie zu bewahren, und zwar mithilfe der Wissenschaft. Das ist der utopische Lebensauftrag der Elisabeth Mann Borgese gewesen.

Ist Ihr Buch das Werk eines Verehrers?
Das wäre jetzt nicht mein Wort, aber ich sage mal: Ja. Obwohl mir Thomas Mann dafür auch zu lebendig ist und ich mich ihm irgendwie brüderlicher oder sohnhafter zugewandt fühle. 

Interview: Marcus Meyer

Die Mutter nimmt Abschied vom „falschen Leben“. Ein Buchauszug:

Julia Mann war erst vor wenigen Wochen hierhergezogen in eine besonders kleine, unschön eingerichtete Wohnung. Seit acht Tagen war sie krank, Grippe, Lungenentzündung, dazu ihr schwaches Herz und die immerwährende Angst um die Kinder. Sie war geflohen und geflohen, in den letzten Jahren immer ­eiliger. Auf der Flucht, auf der Suche. Wer brauchte sie noch? Wofür war sie noch am Leben? Wo war ein Halt?
    Vicco betritt ihr Zimmer und erinnert sich später:  »Mama lag hochgebettet und lächelte mich aus verfallenem Gesicht froh an. ›Na, alter Peter, da bist du ja‹, sagte sie langsam und mit ganz veränderter Stimme.«
    Ja, was war mit ihrer Stimme geschehen? Sie hatte stets rasch und in reinem Hochdeutsch mit leicht Lübeckschem Tonfall gesprochen. Und jetzt sprach sie langsam, in dunklem Ton, rollte das R. »Es war – ja so klang es«, so empfindet es ihr jüngster Sohn, »wenn Spanier oder ­Portugiesen Deutsch sprachen. Portugiesen, also auch Brasilianer.«
    In den letzten Lebensstunden sprach die kleine Dodo wieder aus ihr. Das Portugiesisch der Kindheit oder wenigstens doch der Klang von damals, als wäre er all die Jahre tief in ihr verborgen gewesen und käme nun ganz von selbst wieder in die Welt. Die Stimme der Strand­menschen und des Mädchens, das sie damals war und über das sie später schrieb: »Es lief im Hemdchen, das durch einen Gürtel gehalten wurde, barfuß umher; einmal vorn hinaus an den Meeresstrand, um von den mächtigen Steinen die Muscheln und kleinen Austern zu lösen, die sie zum ­Rösten ins Haus an den Herd brachte; dann wieder hinter das Haus an den Rand des Urwaldes, wo sie herabgefallene Cocosnüsse und Bananen sammelte.«
    Vicco schaut und hört und schreibt: »Und nun, beim Sterben, war der Klang von ›drüben‹, vom bunten Soneland, wieder da.« 
    Es ist der 11. März 1923. Die beiden älteren Brüder kommen zusammen mit Heinrichs und Viccos Frau im Wagen vorgefahren. Katia ist krank. 
    Julia sagt: »Aber ich will Euch alle vorher noch einmal sehen.« Es wird beschlossen, dass ihre Söhne ein letztes Mal Tee mit ihr trinken, vier Tassen, dazu Gebäck. Julia tut, als ob sie noch einen Schluck nimmt, doch sie ist längst zu schwach, fordert die Söhne zum Kekseessen auf. Thomas erzählt mit ruhiger Stimme von den Kindern. Julia hört zu, lächelt und schließt immer wieder die Augen.
     Vicco sieht seine Mutter friedlich und ruhig: 
    »Dies war Verklärung und glücklicher Ausgang. Ihr Leben lang war unsere Mutter angstvoll um uns und auch nervös-ängstlich um sich selbst gewesen. Ihre Kinder glaubte sie immerfort in irgendwelchen Gefahren und mahnte sie mündlich und schriftlich fortwährend zur Vorsicht. Sie hatte sich vor raschen Wagenfahrten, vor Bahnunglücken, Gewittern und Schlangen gefürchtet, aber jetzt, wo der Tod vor der Tür stand, fürchtete sie sich nicht. Das war nicht letzte Schwäche, denn der diskrete Abschiedsplan bestand ja sicher schon, seit sie um das nahe Ende wußte. Und die unstete Flucht der letzten Jahre, das unnötig und peinigend Entwurzelte war dahin.«  
  Ihre dunkle Stimme aus der Ferne wird immer leiser.
Schließlich sagt sie: »Ich will jetzt ein bißchen schlafen.« Und: »Ich werde Euch wieder rufen lassen.« Die Söhne verabschieden sich, schauen noch einmal zum Bett, sie winkt und lächelt. Draußen erzählt Thomas leise den wartenden Frauen vom letzten Gespräch und noch bevor er sich setzen kann, öffnet sich die Tür, die Schwester tritt ein und sagt: »Die Frau Senator ist soeben ganz sanft entschlafen.«

Über den Autor

Volker Weidermann, 1969 geboren, ­studierte Politikwissenschaft und ­Germanistik in Heidelberg und Berlin. Seit 2006 ist der Journalist als Schriftsteller tätig und hat eine Reihe von ­Büchern über Literaten des frühen 20. Jahr­hunderts verfasst, darunter den Bestseller „Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft“ sowie „Träumer – Als die Dichter die Macht übernahmen“; und nun die Biografie über Thomas Mann.

Volker Weidermann
Mann vom Meer

Kiepenheuer & Witsch, 240 S., 23,– €,
ISBN 978-3-462-00231-7