Amor Towles: LINCOLN HIGHWAY

Die Magie von Geschichten

25. August 2022

Drei Teenager und ein kleiner Junge, ein alter Studebaker und zahlreiche kuriose oder riskante Begegnungen: Amor Towles’ Roman „Lincoln Highway“ ist die ebenso witzige wie tiefgründige Roadnovel eines Autors, der stets auf der Suche nach Neuem ist.

Emmett Watson ist 18, als er aus der Jugendstrafanstalt ­Salina entlassen wird. Man schreibt das Jahr 1954, und auf der Farm seines kürzlich verstorbenen Vaters in ­Nebraska findet Emmett nichts als Schulden und einen alten Stude­baker vor. Also plant er, gemeinsam mit seinem achtjährigen Bruder Billy auf dem Lincoln Highway nach Kalifornien zu fahren, wo er selbst auf ein neues Leben und Billy auf ein Wiedersehen mit ihrer vor Jahren verschwundenen Mutter hofft. Aber als auf einmal Duchess und Woolly auftauchen, zwei Freunde, die aus Salina getürmt sind, kommt alles anders. Plötzlich sind die vier nach New York unterwegs, und so beginnt eine turbulente Reise: Weil Duchess und Woolly sich den Studebaker ungefragt ausleihen, müssen Emmett und Billy als blinde Passagiere mit dem Zug fahren; sie treffen auf einen betrügerischen Pastor und den freundlichen Vagabunden Ulysses, bevor sie in New York ihre Mitreisenden wiederfinden und sich entscheiden müssen, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen.

„Lincoln Highway“ ist so etwas wie der Gegenentwurf zu Amor Towles’ vorherigem Roman. Hatte Towles in „Ein Gentleman in Moskau“ eine Geschichte erzählt, die sich über viele Jahre erstreckt und örtlich auf ein Hotel beschränkt ist, so umfasst die Handlung diesmal nur zehn Tage, aber dafür mehrere Tausend Kilometer. „Ich schreibe gern über unterschiedliche Dinge“, sagt Towles. „Das erlaubt mir, verschiedene schriftstellerische Werkzeuge zu nutzen, den Ton zu ändern, die Sprache, die Struktur der Erzählung.“ Bevor er allerdings loslegt, trägt Towles eine Geschichte oft jahrelang mit sich herum: „Ich bin jemand, der genau plant. Ich denke über alle Komponenten nach, bis ich das Ganze im Kopf habe, und dann beginne ich, Details zu entwerfen.“ Nicht immer freilich will der Roman auch so wie sein Autor. „‚Lincoln Highway‘ sollte aus der Perspektive von zwei Figuren, Emmett und Duchess, erzählt werden“, erinnert sich Towles mit einem Lächeln, „aber dann kam ich zu einer Passage, bei der ich dachte: Das muss von einer anderen Person erzählt werden, nämlich von Ulysses. Daraufhin überdachte ich den gesamten Entwurf, ich ging zurück zum Anfang und baute weitere Perspektiven ein.“

Da haben wir’s, das Leben auf den Punkt gebracht. Man möchte das eine machen und muss das andere tun.

Lincoln Highway

 

Acht Stimmen sind es schließlich geworden, acht vielschichtige Charaktere: Duchess etwa ist zwar Emmetts Freund, aber auch ein unzuverlässiges Schlitzohr, getrieben von einem gnadenlosen ­Moralkodex. Der schwermütige Woolly scheint in einer eigenen Welt zu leben, und Billy versenkt sich begeistert in ein Buch mit dem sperrigen Titel „Professor Abacus Abernathes Kompendium von Helden, Abenteurern und anderen unerschrockenen Reisenden“, das ihn ständig begleitet und das es Towles ermöglicht, Brücken in die Vergangenheit zu schlagen – zu Abraham Lincoln, Achilles und nicht zuletzt zu Odysseus, dessen Reise der des Vagabunden Ulysses auf seltsame Weise zu ähneln scheint. 

Es ist ein Buch voller Geschichten: Amor Towles erzählt von Duchess’ Vater, einem Schauspieler und Hochstapler, der seinen eigenen Sohn hinterging, vom tragischen Schicksal des Clowns Marceline, von Woollys Liebe zu Abraham-Lincoln-­Statuen, von Ulysses’ Suche nach seiner Frau und von Professor Abernathe, der durch Billy das Leben neu entdeckt. 

Die Liebe zum Erzählen begleitet Towles schon seit seiner Kindheit, aber das Leben führte ihn zunächst in die Finanzbranche, wo er als Investmentbanker arbeitete – ohne freilich das Schreiben aufzugeben: „Ich habe die meiste Zeit meines Lebens geschrieben, aber ich schaffte es nicht, etwas zu veröffentlichen, bevor ich ­Mitte 40 war. Jetzt genieße ich den Luxus, erzählen zu können.“ Diese Erzählfreude wird in „Lincoln Highway“ sehr deutlich, in diesem feinsinnigen, klugen Roman, der von Reisenden handelt, vom Unterwegssein, von der Balance zwischen Schuld und Sühne, von der Einzigartigkeit eines Schicksals und nicht zuletzt von der Magie von Geschichten, die Professor Abernathe entdeckt: „Wie leicht vergessen wir doch – wir, deren Geschäft das Geschichtenerzählen ist –, dass es die ganze Zeit ums Leben geht.“

Irene Binal

Amor Towles
Lincoln Highway

Roman.
Hanser, 576 S., 26,– €, 
ISBN 978-3-446-27400-6
 

Über den Autor

Amor Towles wurde 1964 in Boston geboren. Er studierte in Yale und Stanford und arbeitete viele Jahre als Investmentbanker in New York, bevor er beschloss, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Der Erfolg gab ihm recht: Seine Romane sind Bestseller und werden in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Anlässlich seines neuen Buchs kommt Amor Towles nach Deutschland. Wohin und wann, verraten wir Ihnen hier. Außerdem gibt’s unter dem Link eine interaktive Karte zur Roadnovel zu ­entdecken: mit vielen Illustrationen und Zitaten aus „Lincoln Highway“.