Jakob Augstein: STRÖMUNG

"In diesem Buch sind die Frauen klüger"

3. März 2022

Franz Xaver Misslinger steckt in einer tiefen Krise. Eine Reise in die USA soll ihm neue Kraft geben, doch sein Leben gerät dort vollends aus den Fugen. Jakob Augsteins brillantes literarisches Debüt ist ein kluger Roman über Hoffnung, Scheitern und den Glauben.  

Sie sind als Publizist und Verleger tätig und haben als leidenschaftlicher Gärtner ein Gartenbuch veröffentlicht. Was hat Sie dazu bewogen, nun einen Roman zu schreiben?
Jakob Augstein: Die Idee dazu kam nicht direkt über Nacht. Ich hatte das schon lange vor. Aber es hat eine Weile gedauert, bis ich den Eindruck hatte, dass die Zeit dafür reif sei. 

Was kann die Literatur, was der Journalismus nicht kann?
Es sind zwei verschiedene Berufe, die nicht viel miteinander zu tun haben. Abgesehen davon, dass die Grenze zwischen dem, was man Erfindung und Wirklichkeit nennt, nicht selten schmaler ist, als wir uns einreden. 

Im Zentrum von „Strömung“ steht ein Politiker – ist Ihr Buch ein Politikroman?
Nein. Misslinger arbeitet in der Politik, das hat bestimmte Konsequenzen für die Handlung, aber es geht nicht um Politik. Er könnte auch in einem Autohaus arbeiten oder in einer Versicherung. Das eigentliche Thema des Buchs ist der Glauben.

Misslinger ist „ein Mann unserer Zeit“. Inwiefern?
Er ist ein Kind der 1990er Jahre, ein Kind Helmut Kohls, ein Kind der großen westlichen und männlichen Selbstgewissheit. Sein Lebensmotto ist das des Trommlers aus Grimms Märchen: Was ich will, das kann ich. Das muss irgendwann schiefgehen, in der Wirklichkeit wie in der Literatur.  

Welche Rolle spielen Misslingers Ehefrau Selma und seine Tochter Louise?
Seine Frau erkennt den Abweg, auf den er geraten ist, und versucht ihn zu warnen. Seiner Tochter dagegen bedeuten Welt und Werte ihres Vaters gar nichts mehr, wie er zu seiner Enttäuschung feststellen muss. In diesem Buch sind die Frauen also klüger als die Männer, wahrscheinlich auch menschlicher. Da unterscheidet sich die Literatur von der Wirklichkeit, in der Frauen meiner Erfahrung nach weder die besseren noch die schlechteren Menschen sind.

Ihr Buch spielt in Deutschland und in den USA. Welche Bedeutung hat diese Verortung?
Misslinger befindet sich in einer Lebenskrise und sucht dort Halt, wo er die Wurzeln seines Glaubens wähnt: in den USA. Von dort hat er seine leistungsorien­tierte, egozentrische Religion entliehen. Amerika ist sein ­Mekka. Er begibt sich also auf eine Pilgerreise nach New York, ganz so, wie sich sein sehr gläubiger Vater seinerzeit auf Pilgerreise nach Rom begeben hat. Aber das Amerika, das er vorfindet, ist von derselben Krise erfasst, die ihn beutelt. 

Jakob Augstein 
Strömung

Aufbau Verlag, 
301 S., 22,– €,
ISBN 978-3-351-03949-3

Über den Autor

Jakob Augstein, geboren 1967 in Hamburg, ist Verleger der Wochenzeitung „Der Freitag“. „Strömung“ ist sein erster Roman. Augstein lebt in Berlin.