Christian Duda: BAUMSCHLÄFER

„Er löste sich vor aller ­Augen auf“

25. August 2022

Nach einer Familientragödie gerät der 15-jährige Marius in eine Spirale aus sozialer Isolation, Kleinkriminalität und Obdachlosigkeit. Ein ­aufwühlendes Buch über die Sprachlosigkeit und das Scheitern.

Ihr Roman beruht auf einer wahren Begebenheit. Was ist da passiert?
Der Fall ist schnell erzählt. Ein Mann tötete seine Frau und verletzte seinen Sohn lebensgefährlich. Der Junge überlebte. Zwei Jahre später ist er allerdings tot. Er entzog sich allen Bemühungen durch Behörden und Gesellschaft. Jeder kannte ihn, nicht wenige kümmerten sich um ihn. Er löste sich vor aller Augen auf, verschwand, starb.  

Was hat Sie bewogen, den Stoff für eine Geschichte zu verwenden?
Ich wollte diese Geschichte erzählen, ohne Schuldzuweisungen oder das Schicksal zu bemühen. Wie kommt eins zum anderen in diesem Fall und in unserer Gesellschaft? „Baumschläfer“ ist über weite Strecken reine Spekulation. Ich hab’ mir einen Reim auf diesen Jungen gemacht, wollte seinen Trotz, Erfindungsreichtum, seine Widerstandsfähigkeit beschreiben, das Irrlichtern im Kopf. Deswegen wurde es ein Roman und kein Sachbuch. 

Sprachlosigkeit ist im Buch ein wiederkehrendes Thema. Die Protagonisten finden keine oder nicht die richtigen Worte, verwenden Plattitüden; Marius tut sich schwer,  seine inneren Dialoge in vollständige Sätze umzusetzen. Haben wir als Gesellschaft ein Kommunikationsproblem?
Der Hauptgrund war, dass ich über einen Jungen in der Pubertät schreibe. Sprach­losigkeit gehört zum Programm der Pubertät: Alles ist neu – die Genitalien, Gefühle, Verhältnisse und auch die Stimme! Zu Ihrer Frage, ob wir wir ein Kommuni­ka­tionsproblem haben: Wir quatschen, plappern in Allgemein­plätzen, imitieren Floskeln und Tonfälle, lassen Emojis sprechen und setzen uns mit nichts und niemandem mehr auseinander. Kaum etwas genießt noch unsere ungeteilte Aufmerksamkeit, außer Bildschirme natürlich und Parolen. 

Die Handlung und Ausdrucksweise des Romans sind schonungslos, teilweise brutal. Dennoch richtet er sich an Leser ab 14 Jahren …  
Tatsächlich finde ich die Sprache nicht brutal, die Geschichte aber ist es. Ich verstehe auch nicht, wieso wir den Dauerexzess in Filmen akzeptieren, unsere Kinder täglich dieser Dauerschleife aus Schwachsinn und Werbung aussetzen, bei Büchern aber Silben zählen und moralisch tun. Zumal ein Buch, das unverständlich oder langweilig ist, nicht zu Ende gelesen wird. Es hat also eine automatische Kinderschutzfunktion. Wenn es aber lesbar ist, darf es nicht gefährlich, irritierend, verstörend sein? 

Die Kapitelüberschriften lauten: Anklage, Urteil, Vollzug, Kommentare. Sie sind wie ein amtliches Schreiben gegliedert und in Schreibmaschinen-Typo gesetzt. Warum haben Sie diese ungewöhnliche Form gewählt? Ich hatte die Sorge, mir selbst – meiner Emotionalität und Eitelkeit – auf den Leim zu gehen, woll­te den Leser auch nicht mit süffiger Sprache und gelungenen Bildern einlullen. Ich experimentiere gern mit Verfremdungseffekten. Leider verkommen sie leicht zu Gimmicks. Zu meiner eigenen Überraschung taten sie es in diesem Text nicht. Dieser Text vertrug diese Störmanöver nicht nur, sie passten sogar. 

Interview: Susanne Dietrich

Christian Duda
Baumschläfer

Beltz & Gelberg, 
196 S., 18,– €, ab 14, 
ISBN 978-3-407-75685-5

Über den Autor

Christian Duda, 1962 in Graz geboren, hat in Stuttgart Philosophie, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft studiert und ­arbeitete zunächst als Regisseur. Heute lebt er als mehrfach ausgezeichneter Autor für Kinder- und Jugendliteratur in Berlin.