BELLETRISTIK

Meister und Schüler

9. Oktober 2023

„Yoga Town“ heißt der neue Roman von Daniel Speck: Der Bestseller­autor erzählt eine schmerzhafte ­Familiengeschichte und setzt sich ebenso liebevoll wie kritisch mit der ­Hippiegeneration auseinander. Ein Gespräch über den Soundtrack der 1968er, die Magie des Reisens und das Verständnis von Identität.

Herr Speck, Ihr neues Buch „Yoga Town“ ist eine komplexe Familiengeschichte und zugleich ein großartiger Trip in die Hippiezeit. Lag es in der Luft oder ist es Zufall, dass Sie sich jetzt mit dieser Generation befassen? Der erste Impuls kam durch eine Reise, die ich vor ein paar Jahren ins indische Rishikesh gemacht habe, um ein ayurvedisches Retreat mit Yoga und Meditation zu machen. Mein Yogalehrer Sandeep zeigte mir den alten Beatles-Ashram. Ich war überwältigt, dass ich an diesem Ort, der so weit von meinem Zuhause entfernt ist, etwas fand, das ganz stark mit meiner Kindheit zu tun hatte, nämlich die Musik, mit der ich aufgewachsen bin. 

War der Zauber dieses Orts, wie Sie ihn im Buch beschreiben, noch zu spüren? Absolut. Und was mich besonders fasziniert hat: dass das Gelände im Dschungel über die Jahrzehnte so ­unberührt geblieben ist. Es wurde nicht bebaut, sondern komplett der Natur überlassen. Auf den ersten Blick wirkte es wie eine jahrtausendealte Tempelanlage, aber es ging dabei um die Genera­tion meiner Eltern. Die haben dort nicht irgendwelche Götter angebetet, sondern meditiert. Über dieses spirituelle Element rückte das Thema ganz nah an mich heran; nichts ist weg, dachte ich, ganz viele Hippies leben ja noch. Als ich herausfand, dass es noch keinen fiktionalen Film oder Roman dazu gab, wusste ich: Die Geschichte hat mich gefunden. Ich musste etwas dazu erzählen.   

Hegen Sie Sympathie für die Träume dieser Generation? Auf jeden Fall. Wie könnte man keine Sympathie hegen für die Träume von einer gerechteren, friedvolleren und menschlicheren Welt? Auch wenn vieles von dem, was damals in der Luft lag, krachend gescheitert ist, kann ich dieser Zeit viel abgewinnen. Die Menschen lebten in einer Aufbruchstimmung und hatten das Gefühl, ihr Schicksal in die Hand nehmen, etwas verändern zu können, die Welt besser zu machen.

Sie erzählen die Geschichte entlang von Klassikern der Rock- und Popgeschichte, bei Weitem nicht nur anhand der Beatles, die eine große Rolle im Roman spielen. Wie sehr hat Ihnen der Sound die Feder geführt? Bei der Plotstruktur haben mich eher alte Mythen inspiriert, aus der Bibel oder der Bhagavad Gita. Aber beim Schreiben des Textes lief ständig Musik aus den späten 1960ern. Was die Musik mir vermittelt hat, ist ein Feeling, einen Vibe; sie hat mir geholfen, mich so zu fühlen, wie sich die Menschen damals wohl gefühlt haben. Ich bin 1969 geboren, habe die Zeit selbst nicht erlebt, und beim Schreiben muss man die Figuren so erleben, als wäre man mittendrin, damit auch den Leser:innen das Gefühl vermittelt wird, sie wären dabei, umgeben von der Musik. Daher hat der Roman auch eine Playlist, die man beim Lesen abspielen kann.

Über den Autor

Daniel Speck, geboren 1969, ist Dramaturg, Drehbuchautor und Schriftsteller. Seine transgenerationalen Familienromane ­beschäftigen sich immer mit existenziellen Fragen: Wer bin ich, wer will ich werden?. „Yoga Town“ ist sein vierter Roman, die drei Vorgänger – „Bella Germania“, „Piccola Sicilia“ und „Jaffa Road“ – sind allesamt Bestseller. 


 

Ist die Musik eine Komplementärwelt, über die man Gefühle leichter und komprimierter transportieren kann als über Literatur?
Ich bin ausgebildeter Drehbuchautor, habe jahrzehntelang Drehbücher geschrieben. Und ich schreibe jetzt mit großer Freude Romane. Aber es gibt eines, das mir dabei fehlt, nämlich der Soundtrack. Ich kann beschreiben, was die Musik in mir auslöst, ich kann auch einen Raum so beschreiben, dass er vor dem geistigen Auge der Leser:innen entsteht, aber wie beschreibe ich einen Song wie „Across the Universe“? Beim Film macht die Musik die Emotion. Das fehlt mir beim Schreiben ... und wenn ich noch eines anfügen darf …

Aber klar. Musikhören damals, das war ein Ritual: ein Album aus der Hülle holen, auf den Plattenteller legen, die Songtexte lesen ... Man zappte nicht von Track zu Track, sondern ließ sich auf eine musikalische Reise ein. Kein Wunder, dass ­Vinyl eine Renaissance erlebt. Dieses Gefühl möchte ich auch mit dem Buch erzeugen, die Leser:innen auf eine Reise mitnehmen, sie so schmecken, riechen und erfahren zu lassen, als würden sie selbst in den Bus steigen und mit den Protagonisten nach Indien fahren ..., um sich selbst zu finden.  

Nach welchen Kriterien haben Sie die Musik ausgewählt? Meine Figuren brechen um Weihnachten 1967 auf und kommen im Februar 1968 in Indien an, zu der Zeit, als die Beatles, Mike Love von den Beach Boys und Donovan auch dort sind. Ich habe recherchiert, welche Musikalben in dieser Zeit herauskamen, was damals wohl im Radio gespielt worden sein könnte, und habe dann die Songs ausgewählt, die zum Thema, der Stimmung und den handelnden Personen passten.

Zum Beispiel? Ich habe mir überlegt, wie es wohl für die beiden Brüder aus meinem Roman war, aus einer harten, grauen Harburger Vorstadtwelt zu kommen und „Strawberry Fields Forever“, „Magical Mystery Tour“ oder das Jahrhundert­album „Sergeant Pepper“ zum ersten Mal zu hören. Wenn die Farben, die Themen und die Universalität dieser Musik Einzug halten; und wow, wenn man sich darauf einlässt und es wie zum ersten Mal hört, ist es wie ein Lichtstrahl aus dem Universum. Da will man raus in die große, weite Welt.

Sie sind bekannt dafür, dass Sie die Hintergründe Ihrer Geschichten akribisch recherchieren. Wie war es bei Kabul, einer wichtigen Station Ihres Romans? Die Inspiration dafür habe ich durch meinen im vergangenen Jahr verstorbenen Freund Roman Bunka erhalten. Er war ein großer Oud-Spieler (die arabische Laute, Anm. d. Red.), ein Weltmusiker, der Ende der 1970er Jahre zusammen mit der Krautrock-Band „Embryo“ eine Reise nach Indien gemacht hat. 

Über den Werner Penzel den Dokumentarfilm „Vagabunden Karawane“ gedreht hat... Ja, das war total irre, die haben einen Bus gekauft, ihre Musikinstrumente eingepackt und sind ­einfach losgefahren. Sie haben ein Afghanistan ­erlebt, das es heute so nicht mehr gibt. Roman ­Bunka hat mir von großer Gastfreundschaft erzählt, von der offenen Stimmung in Kabul. Man ist damals viel offener und interessierter aufeinander zugegangen, das zeigt auch der Film. Die Einheimischen waren neugierig auf die Hippies, auf die Klamotten, auf die Musik. Es war klar: Ihr habt lange Haare und andere Werte, aber lasst uns zusammen essen, einander zuhören, miteinander Musik machen. Reisen war damals unverstellter; man ist ohne vorgefertigte Bilder losgezogen, bereit, die fremden Eindrücke aufzunehmen. Und bereit, sich durch die Erfahrungen zu verändern.

Daniel Speck
Yoga Town

S. FISCHER, 480 S., 25,– €,
ISBN 978-3-949465-04-8                                                            

Hörbuch gekürzt gelesen von Daniel Speck und Mina Tander. 
Argon, 11 Std., 30,– €, 
ISBN 978-3-8398-2092-6

Was war schriftstellerisch die größte Herausforderung? Eine große Herausforderung war, den Vibe, den ich in der Musik und in den Dokumentarfilmen über diese Zeit spüre, in eine angemessene Sprache zu übersetzen, sodass sie die Lässigkeit dieser Zeit bekommt. Da musste ich experimentieren. Das war eine schöne Erfahrung nach den großen und schweren politischen Themen der vergangenen Bücher, bei denen ich auf die Missverständlichkeit jedes Wortes achten musste. Ich habe mich diesmal viel freier gefühlt. 

Sie haben in einem Interview mal gesagt, dass Sie für Ihre Geschichten immer eine Frage brauchen, die sich nicht so leicht lösen lässt. Welche war das bei „Yoga Town“? Es ist die Frage, wie ich heute auf eine Zeit zurückschauen kann, die einerseits ein Mythos ist, und in der andererseits vieles gescheitert ist. Wie lässt sich das in Einklang bringen, der liebevolle und der kritische Blick? Auch dieser krasse Widerspruch, dass die Hippies hier alle Regeln über Bord schmissen, in Indien aber auf traditionelle Strukturen trafen. Die Lectures, die der Guru Maharishi gab, waren ja keine Proseminare, in denen kritische Diskussionen erlaubt waren. Eine andere Frage: Was ist die Schattenseite von Peace, Love and Freedom? Mich haben die archaischen Beziehungskonflikte interessiert, die auf dem Selbst­findungstrip aufbrechen: Wie verträgt sich freie Liebe mit Eifersucht? Kann man sich von seiner familiären Prägung befreien? Lou und Marc haben früh ihre Mutter verloren. Jeder geht mit diesem Verlust auf seine Weise um: Lou übernimmt als älterer Bruder eine Verantwortung, die ihm bald zu schwer wird, während Marc versucht, der Schwere durch Leichtigkeit zu entfliehen. Er ist verspielter, wilder, er verführt alle Frauen, aber kann bei keiner bleiben. Er ist wie Jim Morrison: ein junger Gott, der an beiden Enden brennt.

Ihr Interesse richtet sich stets auf trans­generationale Geschichten und deren Einfluss auf die eigene Identität. Hat sich Ihr Blick darauf im Lauf der Zeit verändert?
Mein Roman „Bella Germania“ handelt von der Suche nach familiengeschichtlichen Wurzeln und von dem, was fehlt, wenn man sie nicht kennt. In „Piccola Sicilia“ und „Jaffa Road“ erzähle ich von Menschen, die, weil sie auf eine religiöse oder ethnische Identität reduziert werden, diskriminiert werden. In „Yoga Town“ lernen Menschen, durch Meditation und spirituelle Übungen, ihre Identität zu transzendieren. Sie begreifen, dass ihr Ego ­etwas sehr Begrenzendes und Kleines ist. Und dass der Geist, der uns alle verbindet, viel größer ist. Ich halte Identität mittlerweile für eine Kon­struktion, die für manche Menschen notwendig erscheint, um Halt in einer Gruppe zu finden, ­andere Menschen auszugrenzen oder soziale Verhältnisse zu zementieren. Man sollte sich nicht zu sehr auf seine Identität fokussieren. Sie könnte sich als Illusion herausstellen.

Trotz allem Abstand spürt man in dem Buch eine gewisse Form der Wehmut. Sind Sie Nostalgiker? Ich wollte die damalige Zeit wertschätzen, aber nicht drin verhaftet sein. Dennoch: Hätte ich eine Zeitmaschine und nur einen Wunsch frei, mich in eine Zeit und an einen Ort zu katapultieren, ich würde in den Computer eingeben: März 1968, Rishikesh (lacht). Ich würde einfach gern Mäuschen sein und zuhören, wie die Beatles in den zwei Monaten ihres Aufenthalts 48­ Songs komponieren, von denen die meisten es ins sagenhafte „Weiße Album“ schafften.

• Interview: Marcus Meyer