Mit Hingabe an das Leben
Eine tragische Liebe, eine folgenreiche Entscheidung und ein versunkener Ort: In ihrem gefeierten Romandebüt hält Shelley Read ein mitreißendes Plädoyer für weibliche Resilienz unter widrigen Umständen.
Eine tragische Liebe, eine folgenreiche Entscheidung und ein versunkener Ort: In ihrem gefeierten Romandebüt hält Shelley Read ein mitreißendes Plädoyer für weibliche Resilienz unter widrigen Umständen.
Was bleibt von einem Tal, wenn es im Wasser versinkt, und was von den Menschen, die es bewohnten? „Mein Zuhause liegt auf dem Grund eines Sees (...), schlanke Forellen durchstreifen die Reste meines Kinderzimmers.“ Mit dieser surreal anmutenden Feststellung beginnt nicht eine Neuauflage des Atlantis-Mythos, sondern die Geschichte von Victoria Nash, Tochter eines Farmers im Amerika der späten 1940er Jahre. Vor der atemberaubenden Landschaftskulisse Colorados macht Shelley Read in ihrem von Publikum und Kritik gleichermaßen hochgelobten Bestsellerroman „So weit der Fluss uns trägt“ ein Stück US-Nachkriegsgeschichte aus sehr persönlicher Perspektive erlebbar.
Sie spürt dabei der Frage nach, wie stark die Herkunft und das soziale Umfeld Menschen prägen. Vor allem rückt sie mit Victoria aber eine Protagonistin in den Fokus der historisch fiktiven Geschichte, der es mit großer Widerstandskraft und ihrer unerschütterlichen Liebe zum Leben gelingt, Verlust, Trauer und Einschränkungen immer wieder aufs Neue zu überwinden.
Victoria, genannt Torie, ist gerade einmal zwölf Jahre alt, als ihre Mutter, die Tante und ihr geliebter Cousin bei einem tragischen Unfall ums Leben kommen. Niemand in der Familie schafft es, über die tiefen Wunden, die insbesondere der Verlust der streng religiösen Mutter reißt, zu sprechen. Und so muss sich Torie allein in ihrer neuen Rolle als einzige Frau im Haus zurechtfinden, von der ganz selbstverständlich erwartet wird, dass sie ihre verstorbene Mutter ersetzt.
Victoria ist dem Fremdenhass, der Vetternwirtschaft und der Ächtung aller, die nicht ins Bild passen, längst entwachsen: Ihr Leben gehört keinem Ort, sondern ihr selbst.
Read kontrastiert das streng reglementierte, entbehrungsreiche Leben auf der Familienfarm mit dem scheinbar mühelosen Werden und Vergehen in der unberührten Wildnis ringsum: Am Ufer des Gunnison River liegt Victorias Heimatort Iola malerisch ins Gebirge eingebettet, ihre Ausflüge in die Abgeschiedenheit der Natur bilden ein zentrales Element im Entstehen ihrer Widerstandskraft gegen die Schicksalsschläge auf ihrem weiteren Lebensweg. Obwohl das Klima rau und bisweilen unberechenbar ist, gelang es ihrem Großvater einst wie durch ein Wunder, gegen jede Wahrscheinlichkeit Pfirsichbäume auf der Farm anzupflanzen. Die ungewöhnlich süßen Früchte sind Tories ganzer Stolz: Ernte und Verkauf sind für sie gleichermaßen eine tröstliche Verbindung mit der Vergangenheit wie die immer wiederkehrende Erinnerung daran, dass es sich lohnt, dem Gefühl von Ohnmacht auch in schweren Stunden zu trotzen.
Als Torie 17-jährig dem Zauber einer Zufallsbekanntschaft erliegt und eine Liebesbeziehung mit dem indigenen Wanderarbeiter Wilson Moon beginnt, ändert sich von einem Tag auf den anderen alles. Behutsam begleitet Read die Liebe der beiden Teenager. Sie zeichnet parallel das Sittengemälde der ultrakonservativen, von tief verwurzeltem Rassismus durchzogenen Kleinstadt, in der die heimliche Verbindung der beiden zum Scheitern verurteilt ist.
Mit ihrem Entsetzen über das jähe Ende bleibt die junge Frau allein, dasselbe gilt für die Geburt ihres Kindes. Doch angesichts der Gefahr, in der sie ihr Ungeborenes wähnt, wächst sie über sich und ihre Rolle als gehorsame Tochter hinaus. „Torie“, sinniert sie, hätte „nicht das Zeug dazu gehabt, aufzustehen und fortzugehen.“ Die durch Liebe und Verlust gereifte Victoria jedoch „hatte die Kraft einer Frau“. Sie flieht ins Gebirge, wo sich die Elemente als emotionale Zuflucht, aber auch als unerbittlicher Gegner im Kampf ums Überleben erweisen. Um ihrem Kind eine Zukunft zu ermöglichen, muss Victoria eine schmerzhafte Entscheidung treffen, die zu ihrem ständigen Begleiter wird und sie zwei Jahrzehnte später erneut zwingen wird, viel stärker zu sein, als sie es sich jemals zugetraut hätte.
Zu diesem Zeitpunkt ist ihr Elternhaus bereits einem Stausee gewichen, die Farm geflutet, einzig die Pfirsichbäume sind gerettet. Victoria blickt ohne Wehmut zurück. Sie ist dem Fremdenhass, der Vetternwirtschaft und der Ächtung aller, die nicht ins Bild passen, durch ihre eigenen Erfahrungen längst entwachsen; ihr Leben gehört keinem Ort, sondern ihr selbst.
Trotz der optimistischen Grundstimmung hütet sich Read in ihrem Roman vor einer vereinfachenden Verklärung. Sie bietet ihren Leser:innen keine perfekten Lösungen an, sondern zeigt stattdessen, dass um jeden Fels im Wasser ein Weg führt. Auf diese Weise gelingt ihr eine atemberaubende Geschichte über die oft grausame Gleichzeitigkeit der Dinge – und über die Reise einer mutigen Heldin zu sich selbst. •
Shelley Read kennt die Schauplätze ihres in 30 Ländern erschienenen Debüts wie ihre Westentasche. Die passionierte Wanderin und Hochschuldozentin für Literatur und Umweltstudien lebt mit ihrer Familie in nunmehr fünfter Generation in den Elk Mountains Colorados. Die „Denver Post“ feierte ihren Roman als „literarischen Triumph“.