Frauen | Lyrik

Spannende Kontraste

24. November 2020

Emanzipatorische Großtat: Die gewichtige Anthologie „Frauen / Lyrik“ aus dem Reclam Verlag dürfte unseren Blick auf das Phänomen „weibliche Lyrik“ nachhaltig verändern.

Dichterinnen sind unbeliebt / im Finanzamt / Dichterinnen werden beweint / wenn sie tot sind / und nicht mehr dichten / lang leben die Dichterinnen!“ So lässt Safiye Can ihr Gedicht enden; es ist eines von mehr als 500, die dieser Prachtband versammelt. Die Zeitspanne ihrer Entstehung reicht – vom Mittelalter bis zur Gegenwart – über zehn Jahrhunderte.

Es beginnt mit dem ersten der Merseburger Zaubersprüche und endet mit einem Text von Barbara Köhler, der nach Eugen Gomringers „avenidas“ seit 2018 die Fassade der Berliner Alice-Salomon-Hochschule schmückt. Bereits die chronologische Reihung lässt spannende Kontraste und Dialoge entstehen: Mädchenlieder stehen neben Kriegshymnen, verfolgte Lyrikerinnen neben systemtreuen, DDR neben BRD, die Dichtung einer NS-Mitläuferin neben einem Gedicht der in Auschwitz ermordeten Gertrud Kolmar. Überraschende Nachbarschaften schlagen Funken: Rolf Dieter Brinkmann und Hilde Knef auf einer Seite? Funktioniert!

Doch Herausgeberin Anna Bers will mehr: Sie stellt die Lyrik von Frauen aus drei verschiedenen Perspektiven vor – eine am Kanon orientiert, eine literaturgeschichtlich und eine explizit emanzi­patorisch. Ein Viertel der Texte stammt von Autoren, die eine weibliche Perspektive vermitteln. Hier findet sich Biermanns „Oma Meume“ ebenso wie Bobrowskis „Die Droste“ wieder. Frauen ernst zu nehmen bedeutet auch, in allen Bereichen des Lebens und der Literatur mit ihnen zu rechnen. Diese Anthologie hat das Zeug zum Standardwerk.

NK

Frauen | Lyrik

Gedichte in deutscher Sprache.
Im Auftrag der Wüstenrot Stiftung herausgegeben von Anna Bers. 
Reclam, 879 S., 28,– €, 
ISBN 978-3-15-011305-9

Über die Herausgeberin

Anna Bers arbeitet am Seminar für Deutsche Philologie an der Universität Göttingen und wurde 2017 mit einer Arbeit zur Lyrik Goethes promoviert.