Sie lassen Margherita in vielen Szenen und Dialogen sehr lebendig werden. Wie viel ist fiktiv, wie viel real?
Marguerite Yourcenar würde sagen: „Alles ist fiktiv. Alles ist real.“
Dabei erzählen Sie die Geschichte des verarmten, entvölkerten Venedig nach dem Ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe. War das ebenfalls ein Motiv für den Roman?
Als ich vor gut zehn Jahren mit den Recherchen zu diesem Buch begann, lebten wir noch im Wahn des ökonomischen und ökologischen Endloswachstums. Seither haben wir die Grenzen des Anthropozäns zu ermessen gelernt. Nie hätte ich ahnen können, dass uns eine globale Wirtschaftskrise, die größte Völkerwanderung seit dem Mittelalter und die furchterregendste Pandemie seit der Spanischen Grippe erreicht. In den vergangenen Monaten habe ich Venedig so berührend still und fragil erlebt, wie die Stadt 1920 war, als der Roman beginnt.
Margherita engagierte sich für einen exklusiven Kultur- und Naturtourismus als Zukunftsvision für Venedig. Wie aktuell ist dieser Ansatz heute für die vom Massentourismus zerstörte Stadt?
Aktueller denn je. Wäre Margherita heute Bürgermeisterin, würde sie auf einen Tourismus kultureller Nachhaltigkeit setzen. Sie würde drei Millionen Gäste im Jahr zulassen, nicht 30. Sie würde auf einem Mindestaufenthalt und einer aktiven Teilnahme am lokalen Wirtschafts- und Kulturleben bestehen. Dies würde Arbeitsplätze, leistbaren Wohnraum und soziale Inklusion schaffen; die Stadt könnte sich, wie vor 100 Jahren, aus sich selbst heraus erneuern.
Interview: Anita Strecker