Vergessene Heldin
Sie bahnte den Weg für die Schluckimpfung gegen Kinderlähmung und geriet doch in Vergessenheit. „Die Formel der Hoffnung“ erzählt von der mutigen Ärztin und Virologin Dorothy Horstmann.
Sie bahnte den Weg für die Schluckimpfung gegen Kinderlähmung und geriet doch in Vergessenheit. „Die Formel der Hoffnung“ erzählt von der mutigen Ärztin und Virologin Dorothy Horstmann.
Eigentlich ist sie mit ihrer Größe von 1,85 Meter nicht zu übersehen. Aber in der männlich dominierten Welt der Wissenschaft der 1940er Jahre bleiben Frauen unsichtbar. Doch mit einem klugen Schachzug verschafft sich die junge Ärztin Dr. Dorothy Millicent Horstmann immerhin Zutritt: Nur mit ihren Initialen bewirbt sie sich im Vanderbilt-Hospital in Nashville. In dem Glauben, einen begabten Arzt verpflichtet zu haben, sieht sich Chefarzt Hugh Morgan einer Frau gegenüber. Doch sie wird gebraucht. Ausbrüche von Kinderlähmung versetzen die Welt in Angst und Schrecken, und Dorothy Horstmann hat eine Mission: Sie will helfen, dieses tödliche Virus zu bekämpfen. Hautnah und eindrücklich führt Lynn Cullen ihre Leserschaft zurück zu den realen, detailgenau recherchierten Schauplätzen und Ereignissen der Poliomyelitis-Epidemien in den 1940er und -50er Jahren. Entschlossen, empathisch und mit ganzer Kraft stürzt sich Dorothy Horstmann als Ärztin und Epidemiologin in die Arbeit, liefert schließlich den entscheidenden Hinweis, wie sich das Virus verbreitet – und stoppen lässt. Dennoch gehen am Ende nur ihre männlichen Kollegen als „Bezwinger“ der Kinderlähmung in die Geschichte ein.
Fiktion enthüllt eine Wahrheit, die die Realität verbirgt - so zitiert Lynn Cullen den Schriftsteller Ralph Waldo Emerson.
Aus der Perspektive ihrer Romanheldin schildert Cullen die jahrzehntelange Suche nach einem Impfstoff und lässt mit dem Mittel der Romanbiografie den Menschen Dorothy Horstmann lebendig werden. Warmherzig und engagiert als Ärztin, entschlossen und verletzlich als Wissenschaftlerin, die sich gegenüber männlichen Kollegen behaupten muss. Beharrlich erkämpft sie sich Gehör und Mittel für ihren Forschungsansatz und stellt Privates zurück. In der Fiktion des Romans opfert sie ihre Liebe der beruflichen Mission; Familie und Beruf sind in ihrer Zeit für Frauen nicht vereinbar.
„Fiktion enthüllt eine Wahrheit, die die Realität verbirgt“, zitiert Cullen den Schriftsteller Ralph Waldo Emerson. So zeigt sie in ihrem Roman, wie unterschiedlich Frauen und Männer denken und handeln: Umgeben von männlichen Konkurrenzkämpfen und der Gier nach Ruhm, forscht Romanheldin Dorothy Horstmann allein um der Sache willen. Ebenso wie andere Mitstreiterinnen, deren Verdienste Männern zugeschrieben wurden. Auch sie holt der Roman aus der Vergessenheit.
Nicht nur, aber auch um dieser Würdigung vergessener Wissenschaftlerinnen willen ist der Roman „Die Formel der Hoffnung“ eine mitreißende Entdeckung.
Text: Anita Strecker
Lynn Cullen, in Indiana geboren, schrieb anfangs Kinderbücher. Inzwischen ist sie bekannt für ihre historischen Romane, von denen viele zu US-Bestsellern wurden. Sie lebt mit ihrer Familie in Atlanta.