Westermanns Fundstücke

Vom Entfremden und Entlieben

14. Oktober 2022

Unsere Kolumnistin Christine Westermann empfiehlt Lektüre abseits der Bestsellerlisten. Lektüre, die auch das Wiederlesen lohnt. Heute: „Amt für Mutmaßungen“ und „Die Middlesteins“.

Ein Mann und eine Frau. Verliebt, verheiratet, betrogen, getrennt. Keine ­spektakuläre Geschichte, oder? Aber selten hat ­jemand die Geschichte einer Liebe, die zu zerbrechen droht, so ungewöhnlich ­leise, fast gelassen beschrie­ben wie Jenny Offill. Oft auch amüsant, obwohl die Verzweiflung und die Angst vor dem Verlust mit Händen zu greifen sind. Ihr ­Roman „Amt für Mutmaßungen“ (Penguin, 176 S., 9,– €) ist in kurze ­Abschnitte aufgeteilt, wie ein Tagebuch. Die schönen Anfangsjahre, das Verliebtsein, das sichere Gefühl, alles gut so, uns kann nichts passieren. Da schreiben sich die beiden noch Liebesbriefe, geben als Absender „Amt für Mutmaßungen“ an. Aber es passiert eben doch, das Entfremden, das Voneinander-Abrücken, das Entlieben. Sehr klug wird dieses Ehedrama erzählt. Es werden Philosophen zitiert, Schriftsteller, russische Kosmonauten – sie treiben die ­Geschichte sachte nach vorn und nehmen ihr dadurch die Beliebigkeit. 

Selten hat jemand die Geschichte einer Liebe so ungewöhnlich leise, fast gelassen beschrieben wie Jenny Offill.

Eine jüdische Familie in Chicago, drei Kinder. Im  Laufe der Zeit kommen Schwiegertöchter und Schwiegersöhne dazu. Und Kilos. Denn Edie, Mutter und Anwältin, isst für ihr Leben gern. Auf den letzten Seiten von Jami Attenbergs Roman „Die Middlesteins“ (Schöffling, 264 S., 21,95 €), wiegt sie über 150 Kilo. Ermahnungen zur Mäßigung sind sinnlos, weil Edie sich in einen Koch verliebt, der ihr voller Hingabe die schönsten Sachen auf den Tisch stellt. Richard, ihr Ehemann, von Beruf Apotheker und somit der Gesundheit verpflichtet, hat irgendwann die Faxen dicke und verlässt die Familie. Nein, das ist keine Geschichte darüber, dass man sich besser mäßigen sollte. Auch nicht die versteckte Botschaft, dass Dünne die besseren Menschen sind. Mit leisem Humor und feiner Ironie erzählt die Autorin, wie mühsam es ist, eine Familie zusammenzuhalten. Wie sie einem am Ende doch mit ordentlichem Getöse um die Ohren fliegen kann.

Über die Kolumnistin

Christine Westermann ist Autorin und Journalistin. Sie arbeitet seit vielen Jahren für das Fernsehen und den Hörfunk des WDR, war Mitglied beim „Literarischen Quartett“ und moderierte zusammen mit Götz Alsmann die Sendung „Zimmer frei“.