BELLETRISTIK

Vom Glück der Sonnenblumen

17. März 2023

Liebe, die über das Leben hinaus besteht: Sarah Winman erzählt in „Lichte Tage“ von einer ungewöhnlichen Freundschaft – und von einem Gemälde, das wie ein Fenster zur fröhlicheren Welt ist. 

Komme, was wolle – es gibt immer Hoffnung. Eine ­Gewissheit, die Ellis, dem Prot­agonisten aus Sarah Winmans Roman „Lichte Tage“, nicht in den Schoß fällt. 
Fünf Jahre ist es her, seit Ellis die zwei wichtigsten Menschen in seinem Leben durch ein Unglück verlor. Jetzt fristet er ein Dasein im Arbeiterviertel Oxfords, hat sich seiner Einsamkeit und der monotonen Fabrikarbeit ergeben. Als er nach einem Fahrradcrash gezwungen ist, mehrere Wochen allein zu Hause zu bleiben, holt ihn seine Vergangenheit ein: Erinnerungen an eine Zeit, als er, Michael und Annie unzertrennlich ­waren. Und eine Frage, auf die er keine Antwort hat: Warum verschwand ­Michael für Jahre ohne ein Wort? 

Warum verschwand ­Michael für Jahre ohne ein Wort? 

Michael und Ellis, die beiden gehörten zusammen, seit Vollwaise Michael im Alter von zwölf Jahren in Ellis’ Leben trat und in dessen Mutter eine Art Ersatzmutter sah. In ihrem tristen Alltag war es für sie eine farbenfrohe Kopie der „Sonnenblumen“ Vincent van Goghs, die im Wohnzimmer hing und ihnen die Ahnung gab, dass da draußen eine andere, eine fröhlichere Welt existierte. Aus der Freundschaft der beiden Jungs entwickelt sich während eines Frankreichurlaubs mehr, doch zurück in England wird Michael schnell klar, dass er seine Gefühle für den Freund unterdrücken muss. Als ­Ellis und ­Annie schließlich zueinanderfinden, ­nehmen sie Michael bereitwillig in ihre Mitte auf. Bis Michael abtauchte – und Ellis jetzt endlich in dessen Tagebüchern nach den Gründen für sein Verschwinden sucht. 

„Lichte Tage“ von Sarah Winman schildert eine ungewöhnliche, tiefe Freundschaft, die trotz allem gegen die Bruchstellen des Lebens nicht gefeit ist. „Wer waren wir, Ellis, ich und Annie?“, fragt sich Michael. „Wir waren alles, und dann zerbrachen wir.“ Aus zwei Perspektiven – Ellis in der Gegenwart und Michaels Tagebuchaufzeichnungen – erzählt die britische ­Autorin, die in ­einem ähnlichen Milieu wie ihre Figuren aufwuchs, eine Geschichte um Freundschaft, Liebe und Tod und um die Dinge, die ungesagt bleiben. Dank seiner unaufdringlichen, zugänglichen Sprache ist „Lichte Tage“ trotz der bewegenden Themen eine ­beglückende Lektüre. • Isabella Caldart

Sarah Winman
Lichte Tage

Übersetzt von Elina Baumbach. Klett-Cotta, 240 S., 22,– €,
ISBN 978-3-608-98087-5