BELLETRISTIK

Was kostet ein Leben?

5. Mai 2023

Der Toskana-Urlaub zweier Paare endet in einer Katastrophe: Daniel Glattauer erzählt von den fatalen Folgen eines Unfalls und entwirft dabei ein scharfsichtiges Porträt unserer Gesellschaft.

Es sollen unbeschwerte Tage in einer exklusiven Villa in der Toskana werden: Das Winzerehepaar Engelbert und Melanie Binder und die grüne Nationalratsabgeordnete Elisa Strobl-Marinek mit ihrem Mann Oskar kennen einander seit Jahren und freuen sich auf die gemeinsamen Ferien. Und damit sich Elisas 14-jährige Tochter Sophie Luise nicht langweilt, ist auch eine ihrer Schulfreundinnen mitgekommen: das somalische Flüchtlingsmädchen Aayana. Es war für Elisa nicht ganz einfach, Aayanas streng muslimische Eltern davon zu überzeugen, ihre Tochter allein ziehen zu lassen, aber letztlich hat es geklappt. Aayana ist mitten in einer Luxuswelt gelandet und Sophie Luise hat ihre Urlaubsmission gefunden: „Sie will ihrer Freundin das Schöne am Guten der westlichen Welt zeigen und sie etwas vom Leben der Privilegierten lehren, das sie selbst freilich für das ganz normale Leben hält.“ Alles scheint perfekt – bis Aayana ertrunken im Pool aufgefunden wird. Ein Unglück, auf das sich sofort die Presse stürzt und das zum Desaster wird, als ein dubioser Anwalt auftaucht und für Aayanas Eltern eine hohe Schadensersatzsumme ein­fordert. 

Meister der Gesellschaftsbetrachtung

Der Österreicher Daniel ­Glattauer erweist sich erneut als Meister der Gesellschaftsbetrachtung. In einer leichtfüßigen, aber nie leichtgewichtigen Sprache erzählt der Autor von einem Badeunfall, der die Struktur zweier Familien auflöst. Engelbert und Melanie Binder würden das Ganze am liebsten totschweigen, aber der Vorfall unterminiert die Fundamente ihrer Ehe: „Dann ergreift sie eine tiefe Traurigkeit, die an der Substanz ihrer Beziehung zehrt, die sie sich fragen lässt, wo ihre Liebe geblieben ist, wann sie sie verloren haben, wie lange sie still und geduldig darauf verzichtet haben …“ Für Elisa, deren Liebhaber sich gerade von ihr getrennt hat, wird der Fall zur existenziellen Bedrohung, ihre politische Zukunft steht auf dem Spiel und ihr Umfeld weidet sich an ihrem Elend: „Die Frau, die von allen Menschen geliebt werden will, wird von ihrer engsten Umgebung lustvoll bemitleidet.“ Sophie Luise wiederum, die in ihrer Schulklasse als Mörderin beschimpft wird, sucht Trost im Internet, wo sie einen gewissen Pierre kennenlernt und sich hoffnungsvoll an diese Beziehung klammert, ohne zu ahnen, dass Pierre nicht der ist, der zu sein er vorgibt.

„Sie will ihrer Freundin das Schöne am Guten der westlichen Welt zeigen und sie etwas vom Leben der Privilegierten lehren, das sie selbst freilich für das ganz normale Leben hält.“

aus: "Die spürst Du nicht"

Prosa, die mit Witz ebenso brilliert wie mit starken Dialogen

Spätestens mit seinem 2006 erschienenen Roman „Gut ­gegen Nordwind“ hat sich der Wiener Daniel Glattauer in die erste Riege der deutschsprachigen Autoren geschrieben. Die ebenso unterhaltsame wie tiefgründige Geschichte einer E-Mail-Romanze wurde 2019 verfilmt und begeisterte Menschen überall auf der Welt. In „Die spürst du nicht“ beweist Glattauer nun einmal mehr seinen scharfen Blick für gesellschaftliche Entwicklungen und Schieflagen. Er erzählt von Elisas zum Scheitern verurteilten Versuchen, die Angelegenheit gütlich und ohne Gerichtsverfahren zu regeln, vom Zerbrechen ihrer Freundschaft mit Melanie, von Sophie Luises wachsender Einsamkeit und nicht zuletzt von Diskussionen in den sozialen Medien, in denen der Fall genüsslich wieder und wieder durchgekaut wird. Und er schildert den Kampf einer von ihrer Flucht schwer traumatisierten muslimischen Familie um Gerechtigkeit, um Anerkennung ihres Schmerzes und Respekt für ihre Trauer. Schonungslos durchleuchtet Glattauer die Welt der Privilegierten; eine Welt, deren Protagonisten sich für unverwundbar halten, bis sie unvermittelt auf eine Flüchtlingsrealität treffen und die sorgsam hochgezogenen Mauern von der Frage, was ein Leben kostet, zum Einsturz gebracht werden. 

Daniel Glattauer
Die spürst du nicht

Zsolnay, 304 S., 25,– €,
ISBN 978-3-552-07333-3
Das Hörbuch erscheint gleichzeitig bei Hörbuch Hamburg

All das kleidet Daniel Glattauer in eine einnehmende Prosa, die mit Witz ebenso brilliert wie mit starken Dialogen und klugen Beobachtungen, eine augenzwinkernde Prosa, die menschliche Gefühle und Verhaltensweisen seziert, ohne dabei den moralischen Zeigefinger zu erheben. Glattauers Roman ist ein vielschichtiges Werk, ein spannender Pageturner ebenso wie eine gewitzte Gesellschaftssatire, die mit interessanten Charakteren und einer geschickten Dramaturgie zu überzeugen weiß. • Irene Binal

Über den Autor

Daniel Glattauer, 1960 in Wien geboren, feierte ­seinen Durchbruch mit dem 2006 veröffentlichten ­Roman „Gut gegen Nordwind“. ­Seine Werke wurden in 30 Sprachen übersetzt.