KOLUMNE

Westermanns Fundstücke: Nah am Wasser

2. September 2023

Christine Westermann empfiehlt Lektüre abseits der aktuellen Bestsellerlisten. Lektüre, die auch das Wiederlesen lohnt. Dieses Mal: „Die Gezeiten gehören uns“ und „Das Sommerbuch“.

Manchmal ist es ein Wunder mit den Büchern. Nichts zog mich hin zu „Die Gezeiten gehören uns“ (Hanser Berlin, 288 S., 22,– €). Nicht die pastellfarbenen Kleckse auf dem Cover, nicht der heroische Titel in rosaroten Lettern. Schon gar nicht der Klappentext: „Vor der Kulisse der sich verändernden Landschaft von San Francisco erzählt Vendela Vida von der Grausamkeit der Jugend, von verlorener Unschuld, von Lügen und Verrat.“ Auch San Francisco, die Stadt, in der ich lange gelebt habe, lockte nicht.

Beim Lesen aber geschieht das kleine Wunder: statt Teeniedrama unerwartete Leichtigkeit. Im Mittelpunkt stehen Eulabee und ihre Freundinnen. Auf dem Weg zur Schule fragt sie ein Autofahrer nach der Uhrzeit. Die beste Freundin wird später bei der Polizei behaupten, der Mann habe sie belästigt. Eulabee macht bei der Lügerei nicht mit, bleibt bei der Wahrheit. Das war’s, Ende der Freundschaft, fortan wird sie ignoriert und gemobbt. Von jenen Irrungen und Wirrungen der Teeniejahre wird fast achselzuckend erzählt, ein staubtrockener Witz hilft in verhaltene Fröhlichkeit zurück. Als junges Mädchen, erzählt die Autorin, war sie eine begabte Lügnerin. Merkte, wie gut es klappte, wenn sie aus ihren Lügen Geschichten für die Schülerzeitung machte. Die begabte Schwindlerin von damals ist heute eine Bestsellerautorin.

Auf dem Cover von Tove Janssons „Das Sommerbuch“ (Lübbe, 208 S., 16,– €) vorn: tiefblaues Wasser, auf dem wie ein Spiegelei eine kleine Insel schwimmt. Dazu ein nicht endendes Himmelblau. Das Inselchen gibt es wirklich, irgendwo im finnischen Meer.

Auf einem ähnlich winzigen Eiland verbringt die sechsjährige Sophia mit ihrer Großmutter die Sommerferien. Das kleine Mädchen ist Waise, die Großmutter wird zur Begleiterin, erzählt von der Liebe, von Glück und Unglück. Die beiden streifen über die Insel, kennen Bäume und Pflanzen mit Namen, fangen Fische und wissen, wann das Meer ein Freund ist und wann es zum Feind werden kann. Sie streiten sich hin und wieder, sind beleidigt. Aber hinter dem Zwist spürt man die unendlich große Liebe zwischen einer alten Frau und einem kleinen Mädchen.

Klug geschrieben, nie belehrend. Eine Geschichte, die mich beseelt und fast zu Tränen gerührt hat. Ein Sommerbuch, vor 51 Jahren geschrieben, in Finnland ein Klassiker, der immer wieder neu aufgelegt und von Generation zu Generation weitergereicht wird.•

 

Über Christine Westermann

Christine Westermann, Autorin und Journalistin, arbeitet seit vielen Jahren für Funk und Fernsehen, war Mitglied beim „Literarischen Quartett“ und moderierte mit Götz Alsmann „Zimmer frei“. Neuerdings podcastet sie auch: mit WDR-Moderatorin Mona Ameziane in dem generationenübergreifenden Format „Zwei Seiten“.