Phantastisches Abenteuer

Der Zauber von Mistle End

6. November 2020

Gibt es Trolle, Elben oder Hexen etwa wirklich? Als Cedric mit seinem Vater in die schottischen Highlands zieht, entdeckt er eine Welt voller wundersamer Fabelwesen. Doch damit nicht genug; auch er selbst scheint magische Kräfte zu besitzen. Ein Auszug aus dem packenden Reihenauftakt zu „Die Chroniken von Mistle End“.

Der Zug fuhr über eine Weiche, es gab einen scharfen Ruck, und sein Kopf schlug hart gegen die Fensterscheibe. Er stöhnte und rieb sich die ­pochende Stirn. Er war eingeschlafen und hatte schon wieder diesen Traum von dem brennenden Wald gehabt. Oder eher Albtraum. Wie vor ein paar Tagen. Er verzog das ­Gesicht und sah sich um. Die Gepäckablagen ihres Abteils ­waren bis unters Dach mit Kisten, Koffern und Taschen vollgestellt. Sie hatten schon früh die letzten Vororte Londons hinter sich gelassen, waren ein paarmal umgestiegen und befanden sich nun in diesem alten und völlig über­heizten Zug nach Schottland. 

Benedict Mirow
Die Chroniken von Mistle End

Der Greif erwacht. Bd. 1.
Thienemann, 
416 S., 16,– €, ab 10,
ISBN 978-3-522-18540-0
 

Er schaute nach draußen. Schneeflocken wirbelten vor der vorbeiziehenden Hügellandschaft durch die Abenddämmerung. Der Dauerregen Englands war irgendwann in dichtes Schneetreiben übergegangen und je weiter sie nach Norden fuhren, desto höher lag der Schnee auf den immer steiler werdenden Hängen rechts und links von der Bahnstrecke. Dabei waren sie nicht etwa auf dem Weg in die Winterferien, sondern unterwegs in ihr neues Zuhause – ein kleiner Ort hoch oben in den schottischen Highlands. Mistle End.
„Cedrik?“
Eher End of the World.
„Cedrik!?“
Er sah auf. Dad. 
Sein Vater Aengus O’Connor, den alle eigentlich immer nur O’Connor nannten, war jetzt wahrscheinlich schon zum hundertsten Mal aufgesprungen, um unruhig in ihren Habseligkeiten zu wühlen. Er stand auf dem Sitzplatz neben ihm und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen von oben herab an. „Cedrik, hast du auch ganz sicher die Kiste mit dem Lexikon der Fabelwesen mitgenommen!? Ich sehe sie nirgends!“ Seine Stimme klang panisch.
Cedrik grinste müde. „Weil sie hinter dem Koffer steht, Dad! Du kannst sie da nicht sehen.“
Aengus O’Connor war Ende dreißig und hatte wie Cedrik braune Haare und leuchtend grüne Augen, die allerdings in seinem Fall hinter dicken Brillengläsern seltsam klein wirkten. Er war ein typischer Bücherwurm. Eine durchaus hilfreiche Eigenschaft als Wissenschaftler, Historiker und an­gesehener Experte für die Mythologie Großbritanniens. Als solcher war er noch vor Kurzem im „Königlichen Museum für Fabelwesen“ in London angestellt gewesen. Niemand hatte ahnen können, dass es nur wenige Tage nach Cedriks zwölftem Geburtstag schließen musste. Zu wenig Menschen interessierten sich noch für die alten Geschichten von Un­geheuern und magischen Kreaturen. Von einem Tag auf den anderen war Aengus arbeitslos. Ihr Leben änderte sich schlagartig. Es gab wenig offene Stellen für Mythologen und da die beiden schon immer allein lebten, musste sein Vater letzten Endes eine Anstellung als Lehrer annehmen. In ­einem Ort, der so klein und unbedeutend zu sein schien, dass ihn Cedrik auf keiner Karte finden konnte, und wo ganz sicher kein Mensch leben wollte. 

Was gab es noch in diesen ­unendlichen Wäldern? Er hatte das Gefühl, dass da draußen mehr auf ihn wartete als Bäume und Schnee.

Aus: „Die Chroniken von Mistle End – Der Greif erwacht“


„Ein bescheuertes, kleines Kaff in den Bergen, voll schottischer Bergtrolle“, so hatte es Cedrik im Zorn genannt. Aber dann doch schweigend seinem Vater geholfen, ihre Hab­seligkeiten in die abgewetzten Koffer und Taschen zu packen. (...) Und am darauffolgenden Tag hatte ­Aengus O’Connor die Bahntickets nach Mistle End erhalten. 2. Klasse, für ihn und Cedrik. Ohne Rückfahrschein. 
Sein Vater hatte sich wieder hingesetzt und schaute aus dem Fenster. „Ich wusste nicht, dass es hier so große Wälder gibt. Bäume, nichts als Bäume!“, sagte er. „Hier leben sicher Hirsche, vielleicht sogar Wölfe.“
 
Wölfe? Cedrik spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er presste seine Stirn an die Scheibe und starrte auf die immer düsterer werdende Landschaft. Inzwischen waren die vorbeiziehenden Bäume im dichten Schneetreiben nur noch als schemenhafte Schatten zu erkennen. Was gab es noch in diesen unendlichen Wäldern? Er hatte das Gefühl, dass da draußen mehr auf ihn wartete als Bäume und Schnee. Wölfe! Er lachte heiser und leckte sich über die trockenen Lippen. Je länger sie fuhren, desto aufgeregter wurde er. Es fühlte sich an wie ... Ankommen. Oder war es doch Heimweh? Er spürte ein Ziehen, eine Spannung tief in seinem Innern, die er nicht verstand. Die sich aber gut anfühlte. 

Auf einmal sprach sein Vater leise weiter, so, als hätte er vergessen, dass er nicht allein im Abteil saß. Er flüsterte fast. „Vielleicht hier. Wäre ein perfekter Lebensraum.“
„Für uns?“, fragte Cedrik.
Sein Vater schreckte hoch. „Ach, nein“, sagte Aengus rasch. Er wirkte verunsichert. 
Cedrik drehte sich hastig weg. Er hasste es, wenn sein Vater diesen traurigen Ausdruck in den Augen hatte. Den hatte er in den letzten Wochen viel zu oft gesehen. 
Sein Vater holte Luft, wandte sich ihm zu und schenkte ihm ein vorsichtiges Lächeln, das den Kummer in seinem Blick nur unzureichend verbarg. „Du wirst sehen, das wird großartig“, sagte er mit rauer Stimme. 

Über den Autor

Der Ethnologe, Regisseur und Autor Benedict Mirow schreibt, dreht und produziert seit vielen Jahren Dokumentar­filme, für die er schon zahlreiche Preise ­gewonnen hat. Nach Zeiten in Afrika und Wien lebt er ­mittlerweile mit seiner Tochter und zwei Katzen in München und schreibt ­phantastische Romane für Kinder.

Emil hat’s gelesen

Das Buch „Mistle End“ ist ein schönes und sehr spannendes Buch. Cedrik zieht mit seinem Vater in das magische Dorf Mistle End. Dort findet er Freunde, aber auch einen Feind. Außerdem sitzt in fast jeder Nacht ein Greif auf seinem Dach. Der Greif ist ein magisches Wesen, eine Mischung aus einem Adler und einem Löwen. Er hat eine Prüfung für Cedrik. In der Prüfung muss er als Druide gegen einen Drachen kämpfen. 
Am spannendsten fand ich Kapitel 33. Dort kommt es zu einem heftigen Kampf. Da geht es den Ratsmitgliedern auch um den Raben von Corvus Crutcher. Beide, Corvus und sein Rabe, haben ein Geheimnis. 
Mir hat im Buch eigentlich alles gefallen!

Über Emil:
Emil Both (10) war ab Seite eins ­begeistert von „Mistle End“. Wenn er ­gerade nicht liest, hört er Musik oder Hörbücher, spielt Computerspiele und trifft Freunde.