Sie beide haben viel Zeit miteinander verbracht, um die
Gespräche für Ihr Buch zu führen. Was verbindet Sie?
Gert Scobel: Mit einem Wort: Freundschaft. Und eine lange Vorgeschichte des „Immer-wieder-miteinander-Nachdenkens“. Beides zusammen ist schon seit der Antike die beste Voraussetzung geblieben, um das Denken weiterzubringen. Philosophie ist die Praxis von Weisheit. Und die kommt selten allein.
Die Gesprächsform ist eine besondere Herausforderung: sich auf den anderen einstellen, ihm Raum geben, gemeinsam ein Thema erarbeiten. Warum funktioniert das zwischen Ihnen beiden so gut?
Markus Gabriel: Weil wir einerseits einen Werterahmen teilen und Philosophie im Dialog neu weiterentwickeln wollen, andererseits aber gerade dabei auch zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Wir respektieren das Anderssein und Andersdenken des anderen und verlassen uns darauf, dass genau dies die Quelle neuer Einsichten ist.
Ihr Buch trägt den Titel „Zwischen Gut und Böse“. Was ist mit diesem Dazwischen gemeint?
Gabriel: Für die ethischen Extreme gibt es einen historisch erworbenen Sensor. Für das radikal Böse stehen die Diktaturen und Gräuel des 20. Jahrhunderts, für das unbedingt Gute große moralische Vorbilder wie Gandhi. Doch viele der dringendsten Fragen der Ethik sind unbeantwortet, sie bewegen sich zwischen den eindeutig identifizierten Polen. Aufgabe einer konkreten Ethik ist es, herauszufinden, wo sich Handlungsoptionen zwischen den Extremen befinden.
Ist dieses Finden einer Position zwischen den Polen auch das, was Sie „Philosophie der radikalen Mitte“ nennen?
Scobel: Das ist natürlich der Kern des Buchs. Der Prozess dieser Philosophie symbolisiert sich für uns in , dem chinesischen Schriftzeichen für Mitte, das wir auch als Kapitelüberschrift eingebaut haben. Wenn wir ethische Probleme lösen wollen, dann sind wir niemals außen vor, sondern bereits mitten in einer komplexen Wirklichkeit. Doch statt uns sofort von „richtigen“ oder „falschen“ Positionen vereinnahmen zu lassen, müssen wir uns zunächst auf einen Prozess einlassen, der die Mitte zwischen Gut und Böse frei macht und damit leer räumt. Wir sitzen zwischen den Stühlen und müssen uns auf die unterschiedlichen Stimmen, Positionen, Argumente einlassen. Erst dann bildet sich ein Urteil.
Was heißt das für die gesellschaftspolitische Gegenwart?
Gabriel: Deutschland muss sich neu aufstellen in einer komplexen globalen Lage. Dazu braucht es nach den visionsarmen Merkel-Jahren eine rationale öffentliche Debatte, in der intellektuelle Stimmen aus den Geisteswissenschaften eine prominente Rolle einnehmen. Die Schwachstellen des naturwissenschaftlich-technokratischen Weltbilds werden nicht von den MINT-Kompetenzen bearbeitet; die sind genau dafür naturgemäß blind. Am besten wären neue kosmopolitische Verhältnisse mit überraschenden Allianzen.
Interview: Sabine Schmidt